Nach dem ersten Tour-Drittel liegen die Favoriten dicht beieinander. Die Defensiv-Taktik von Jonas Vingegaard sorgt bei Tadej Pogacar und Remco Evenepoel aber für Unmut.

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Tadej Pogacar gönnte sich erst einen entspannten Cafe-Besuch mit Teamkollege Nils Politt und schoss dann weitere Giftpfeile auf Jonas Vingegaard, der dänische Titelverteidiger wiederum sprach in einem bewegenden Monolog über die Todesangst nach seinem Horrorsturz: Die Stars der 111. Tour de France setzten auch beim ersehnten Durchschnaufen nach neun Tagen Schinderei ihren Schlagabtausch in den gewohnten Rollen fort. Der (Un-)Ruhetag von Orleans schürte den feurigen Kampf um Gelb.

"Ich denke, er hat einfach Angst vor mir."

Tadej Pogacar über Haupt-Widersacher Jonas Vingegaard

"Ich denke, er hat einfach Angst vor mir. Deshalb sind er und sein Team so auf mich fokussiert", sagte der slowenische Tour-Spitzenreiter Pogacar über Vingegaard mit Blick auf die spektakuläre Schotteretappe vom 7. Juli. Dort hatte Pogacar attackiert, der belgische Gesamtzweite Remco Evenepoel ebenfalls. Vingegaard indes, Dritter der Gesamtwertung, klemmte sich stets an die Hinterräder seiner Rivalen, verweigerte aber die Führungsarbeit.

Jonas Vingegaard "ohne Eier"

"Manchmal braucht man als Radprofi eben Eier. Die hat Vingegaard leider nicht gehabt", sagte Evenepoel: "Sonst hätten wir zumindest am Sonntag schon das Podium entscheiden können." So aber gehen Pogacar, Evenepoel (33 Sekunden Rückstand), Vingegaard (+1:15 Minuten) und der durch des Dänen "Verweigerung" eben nicht distanzierte slowenische Red-Bull-Kapitän Primoz Roglic (+1:36) dicht beieinander in die zweite Woche.

Nun lässt sich trefflich fragen, welches Interesse Vingegaard, der die Tour zum dritten Mal in Serie gewinnen will, an einem gesicherten dritten Platz haben könnte. "Ich hielt es nicht für sinnvoll, dass ich mich an der Tempoarbeit beteiligte. Ich wollte lieber auf meine Helfer warten", sagte Vingegaard. Basketballhafter "Trashtalk", wie ihn seine Rivalen in die Tour bringen, ist nicht das Ding des ruhigen Dänen.

Jonas Vingegaard arbeitet aus der Defensive

Durchdachte Defensive gegen Abteilung Attacke - so läuft diese Tour. Vingegaard agiert bislang wie ein Tischtennis-Spieler, der mit langen Noppen unbeeindruckt die ständigen Topspin-Bälle daueroffensiver Gegner wegarbeitet. Nur: Eine Niederlage bei der Tour zu vermeiden, heißt nicht unbedingt, diese dann auch zu gewinnen.

Das weiß Vingegaard. Er weiß aber auch: Angesichts der schweren Verletzungen von der Baskenland-Rundfahrt im April und des entsprechenden Trainings-Rückstands ist jeder Tag ohne Zeitverlust ein Gewinn. Und mit jedem solchem Tag wächst Vingegaards Chance, bei den ultraschweren letzten drei Etappen selbst zuschlagen zu können.

Tadej Pogacar lässt sich nicht täuschen

Dass Vingegaard nicht die Form des Jahres 2023 haben will, hält Pogacar für Understatement. "Er und sein Team wollen da etwas herunterspielen. Aber ich weiß seit der zweiten Etappe, dass er gut drauf ist", sagte er am 8. Juli: "Mental können sie mich damit nicht treffen. Das beeindruckt mich nicht. Ich schaue nur auf mich."

Vingegaard selbst will sich ebenfalls nicht mit dem Rivalen befassen. "Ich genieße es einfach, hier Rennen fahren zu können", sagte er am Montagmorgen vor großer Journalisten-Runde. Dass er im Mercure-Hotel von Orleans überhaupt Hof halten konnte, sei keineswegs selbstverständlich gewesen.

"Ich dachte, ich würde sterben."

Jonas Vingegaard beschreibt seine Todesangst nach dem Sturz im Baskenland

Unmittelbar nach dem Abfahrts-Sturz im Baskenland habe Vingegaard fast schon abgeschlossen gehabt. Mit allem: "Ich dachte, ich würde sterben. Als ich am Boden lag, habe ich mir gesagt: Wenn ich das überlebe, höre ich mit dem Radfahren auf." Damals landete er mit Knochenbrüchen und punktierter Lunge auf der Intensivstation: "Aber jetzt sitze ich hier, also habe ich offensichtlich nicht aufgehört."

Seine derzeitige Defensiv-Haltung hat demnach nicht nur taktische Gründe, sie ist für den Familienvater gleichsam eine lebenserhaltende Maßnahme. "Vorher dachte ich, schwere Stürze werden mir schon nicht passieren. Bis es dann passierte", sagte er: "Jetzt bin ich vorsichtiger. Und das kann man auch sein, wenn man um Siege fährt."

Die zehnte Etappe ist eine für die Sprinter

Auf der zehnten Etappe der Tour erwartet die Profis ein flacher Abschnitt ohne jegliche Bergwertungen. Gefahren wird von Orléans nach Saint-Amand-Montrond, wo Mark Cavendish bereits 2013 eine seiner 35 Tour-Etappen gewinnen konnte. (sid/eal)

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