Ein Jahr vor Olympia muss der Deutsche Leichtathletik-Verband eine historische WM-Nullnummer aufarbeiten. Frühere Top-Sportler leiden mit. Der Sportdirektor nennt das "primäre Ziel" für 2024.
Der Aufschrei ist laut, die Kritik groß - durch die historische WM-Pleite von Budapest hinterlässt die deutsche Leichtathletik ein Jahr vor den Olympischen Spielen einen besorgniserregenden Eindruck. Erstmals in der vier Jahrzehnte langen Weltmeisterschaftsgeschichte gab es keine Medaille für deutsche Sportler. Und beim Ringe-Spektakel in einem Jahr in Paris könnte es ähnlich schlimm kommen.
"Wir haben auch die Prognose im deutschen Sport gehabt, dass der Tiefpunkt noch gar nicht erreicht, sondern im nächsten Jahr zu erwarten ist, was zum Beispiel Medaillenerwartungen bei Olympischen Spielen im Sport insgesamt angeht", sagte Verbandspräsident Jürgen Kessing. Er musste nach der verpassten Medaille durch Speerwerfer Julian Weber mit dem "Worst Case" - dem schlimmsten Fall - einer Nullnummer aus Budapest abreisen.
"Das primäre Ziel für 2024 ist, dass wir mit allen unseren Topathleten gesund an der Ziellinie stehen. Das ist die wichtigste Aufgabe, die wir im Moment haben - und dann sehen wir weiter", sagte der neue Sportdirektor Jörg Bügner.
Heike Drechsler: "Man kann es natürlich nicht schönreden"
"Man kann es natürlich nicht schönreden", sagte Weitsprung-Olympiasiegerin Heike Drechsler der Deutschen Presse-Agentur am Montag zum WM-Abschneiden, fügte aber auch hinzu: "Wenn die Athleten Bestleistung laufen, kannst Du keinen Vorwurf machen. Wir wollen halt immer Medaillen." Grundsätzlich seien die nächsten zehn Jahre entscheidend für die Entwicklung der deutschen Leichtathletik.
Zwar stieg in Budapest die Zahl der Top-8-Ränge von sieben auf 13, aber das öffentliche Urteil wird nach gewonnenen Medaillen gefällt. Selbst Werfer und Kugelstoßer, die einst zuverlässig lieferten, sind zum Teil weit von der Weltspitze entfernt.
"Nächstes Jahr kommt der Speerwurf zurück, und dann sind wir wieder alle am Start - dann holt der Speerwurf wieder die Medaillen", versprach Weber für die Olympia-Saison. Dann will auch Ex-Weltmeister Johannes Vetter nach Schulterproblemen wieder dabei sein. Weber habe eine Top-Leistung gebracht, aber auch Pech gehabt, dass andere besser gewesen seien, stellte Augenzeugin Drechsler fest. Das bekam auch ein Millionenpublikum daheim im Fernsehen mit.
Abwärtstrend setzt sich in Budapest fort
Höher, schneller, weiter - das sind zwar auch deutsche Athletinnen und Athleten, noch viel mehr aber die zum Teil weit einteilte Weltspitze. Der schon vor einem Jahr bei der WM in Eugene alarmierende Abwärtstrend setzte sich in Ungarn fort, zumindest was die Medaillen anbelangt.
"Das Problem ist einfach, dass sich die Welt-Leichtathletik in der Spitze abgesetzt hat", sagte der langjährige Verbandspräsident Clemens Prokop der Deutschen Presse-Agentur. Grundsätzlich stehe die Leichtathletik aber nicht allein mit ihrem Problem da, der deutsche Sport verliere den Anschluss an die Weltspitze. "Vielleicht ist das auch ein Symptom für die Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft", sagte Prokop.
Bei Weltmeisterschaften war der Verband zuletzt in Peking 2015 mit dem vierten Rang in der Länderwertung in den Top 5, wo er wieder hin will. Diesmal steht Rang zwölf in der Statistik, aber ohne Medaille bringt dies nichts fürs Renommee. 46 andere Nationen gewannen in Ungarn Edelmetall.
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Sportdirektor Bügner: "Veränderung braucht etwas Zeit"
Nach den Titelkämpfen in den USA, als die nach Verletzung in Budapest fehlende Olympiasiegerin Malaika Mihambo mit Weitsprung-Gold und die diesmal personell geschwächte Sprintstaffel um Gina Lückenkemper mit Bronze die Bilanz aufhübschten, wurden bereits Maßnahmen eingeleitet. "Wir sind mitten auf dem Weg und Veränderung braucht etwas Zeit", sagte Bügner.
Allerdings stellt sich die große Frage, ob die anvisierte Rückkehr in die Top 5 der Welt bis zu Olympia in fünf Jahren in Los Angeles überhaupt gelingt. "Es ist zu früh, um diese Frage mit einer Anpassung zu beantworten", sagte Bügner.
Frühere Top-Athleten betrachten die Entwicklung mit Sorge. "Einfach mal keine Medaille trotz guten und persönlichen Bestleistungen", schrieb Diskus-Olympiasieger Robert Harting. Auf X, vormals Twitter, ließ er Kritik anklingen. Das Problem im deutschen Leistungssport sei, "die Konsequenz bei Fehlleistungen durch Entscheider, aber vor allem die fehlenden Investitionen ins Know-how von allen Beteiligten."
Auch bei den Trainern gibt es einen Umbruch
In Workshops und Ideenwerkstätten wurden unter Beteiligung von Sportlern wie Lückenkemper, Diskus-Olympiasieger Christoph Harting oder Marathon-Europameister Richard Ringer Themen mit Verbesserungspotenzial ausgemacht. Dazu gehören eine stärkere individuelle Förderung der Athleten und ihrer Coaches, leistungsstarke Trainingsgruppen, maßgeschneiderte Betreuungsprogramme, die Teamführung bei Titelkämpfen und die Kommunikation im Verband.
Letztlich münde es in einer knappen Formel. "Athlet plus Trainer plus Umfeldbedingung ist Erfolg", sagte Bügner. "Wir versuchen, gerade eine junge Trainergeneration heranzuführen." Man sei auch da in einer Umbruchsituation. Dazu baut der Verband auf junge Sportler, die noch reifen müssen. Allerdings: Bei U23-Europameisterschaften fiel die Medaillen-Ausbeute von 20 im Jahr 2019 über zwölf in 2021 auf acht in diesem Jahr. Bei der U20-EM aber waren es zuletzt immerhin 23. (dpa/lh)
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