Deutschland erkämpft sich bei der Handball-EM gegen Island die ersten zwei Punkte der Hauptrunde, vor allem DHB-Torwart Andreas Wolff glänzte wieder mit etlichen Paraden. Im Interview spricht Weltmeister Carsten Lichtlein über den Weltklasse-Torhüter, seinen potenziellen Nachfolger zwischen den Pfosten und die restlichen Spiele in der Hauptrunde.
Herr Lichtlein, Deutschland und Island haben sich am Donnerstag einen harten Kampf geliefert. War es am Ende denn auch ein verdienter Sieg des deutschen Teams?
Carsten Lichtlein: Es war ein bisschen glücklich, es hätte auch Unentschieden ausgehen können. Wichtig waren natürlich die gehaltenen Siebenmeter von Andi Wolff am Schluss. Es war wichtig, dass er wieder seine Leistung gezeigt hat. Das Spiel war sehr von Abwehr und Torhütern geprägt, das hat man schon am Halbzeitergebnis gesehen. Die Abwehr stand kompakt und das hat den Torhütern auch etwas die Arbeit erleichtert. Und wenn man als Torhüter ein paar einfachere Bälle bekommt, kann man sich auch ins Spiel reinsteigern, so wie es Andi gestern gemacht hat.
Wirklich überragend! Das erinnert mich an 2016, als er auch überragend gehalten hat. Er ist jetzt weiter gereift, sodass er die Leistung konstant abrufen kann. Gegen Nordmazedonien hatte er ein kleines Tief, aber da war
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Lichtlein erklärt, was Wolff so stark macht
Ja, aber es gibt trotzdem noch andere starke Torhüter. Emil Nielsen von den Dänen zum Beispiel, der dann 72 Prozent der Bälle hält. Es gibt mehrere gute Torhüter, aber Andi gehört auf jeden Fall zu den Spitzen-Torhütern auf der Welt - das ist Fakt.
Was hat Wolff, was andere Keeper vielleicht nicht haben? Wo hat er seine Stärken?
Sicherlich im 1-gegen-1-Verhalten. Wenn einer frei durch ist, macht er sich immer wieder groß und hält die Bälle dann. Die akribische Vorbereitung gehört auch dazu. Das akribische Arbeiten während des Trainings, da ist Andi auch sehr verbissen. Er bringt alles mit, was ein Profi braucht und das ist es, was ihn dann auch so weit gebracht hat.
Handball ist ein Mannschaftssport. Trotzdem ist man als Torwart ab und zu auf sich alleine gestellt - zum Beispiel beim Siebenmeter. Können Sie als ehemaliger Torwart erklären, was einem in solchen Momenten durch den Kopf geht?
Da bist du wirklich alleine, da steht dann keine Abwehr da - das stimmt. Man betreibt vorher auch Videostudium und guckt sich die einzelnen Schützen in entscheidenden Phasen an. In Drucksituationen hat jeder Spieler ein, zwei Lieblingswürfe. Und wenn man die im Idealfall in diesem Moment im Kopf hat, hat man auch einen kleinen Vorteil im Gegensatz zum Schützen.
Carsten Lichtlein: So tickt Andreas Wolff privat
Sie kennen Wolff recht gut, Sie sind 2016 zusammen Europameister geworden. Wie tickt er privat?
Er ist ein sehr ruhiger Typ, ganz anders als auf der Platte. Normalerweise ist er ja schon impulsiv, aber wenn du mit ihm redest, ist er sehr ruhig und reflektiert, eher das Gegenteil vom Andi Wolff auf dem Feld.
Bei Ihrem letzten Bundesligaspiel waren Sie 41 Jahre alt, Wolff ist jetzt 32. Wie lange kann er noch auf höchstem Niveau spielen?
Das geht noch ein bisschen! Ich weiß es selber - bei der EM 2016 war ich ja 36, deswegen traue ich ihm schon noch ein paar Jahre zu. Ich hoffe natürlich, dass der Körper mitmacht, er hatte ja erst zuletzt einen Bandscheibenvorfall. Er trainiert immer sehr hart und ich hoffe, dass der Körper mitspielt. Dann hat er auf jeden Fall noch ein paar Jahre.
David Späth könnte die Zukunft im deutschen Tor sein. Glauben Sie, dass der 21-Jährige das Zeug hat, irgendwann in Wolffs Fußstapfen zu treten?
Auf jeden Fall. Er zeigt ja jetzt schon gute Leistungen, ob bei den Rhein-Neckar-Löwen oder auch der Nationalmannschaft. Er ist sehr impulsiv und emotional, das ist auch eine positive Eigenschaft für einen Torhüter. Er ist einer, der das Publikum mit anpeitscht und pusht. Er ist ein Charakter, der das Torwartspiel nach Andi Wolff prägt, hundertprozentig.
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Wolff und Späth: "Normalerweise die perfekte Kombination"
Ist die Kombination aus einem erfahrenen und einem jungen Torhüter die optimale Aufteilung eines Torwartgespanns im Handball?
Auf jeden Fall. Ein Erfahrener und ein Junger, der von dem Erfahrenen lernt, der das Potenzial hat und der auch international bestehen kann. Wenn Späth noch ein paar Jahre reift und von Andi und Matthias Andersson (DHB-Torwarttrainer, d. Red.) lernt, wird er noch besser. Obwohl er ja jetzt schon sehr gut ist. Diese Aufteilung mit einem älteren und jüngeren Torhüter ist normalerweise die perfekte Kombination.
Ihr Neffe Nils ist auch bei der EM dabei, spielte wegen der Kaderbegrenzung von 16 Spielen bislang aber nur einmal. Stehen Sie während des Turniers in Kontakt?
Wir sind in Kontakt und er ist natürlich auch ein bisschen enttäuscht, das ist klar. Aber ich habe ihm auch gesagt: "Du bist jung und du hast die Zukunft noch vor dir. Du darfst jetzt nicht den Kopf verlieren." Es kann auch Ruckzuck sein, dass jemand verletzt ist und dann ist er dabei. Deswegen ist er auf jeden Fall fokussiert und bereitet sich genauso wie der Rest der Mannschaft auf die Spiele vor.
Gegen Nordmazedonien durfte er ran, weil Kai Häfner wegen der Geburt seines Kindes nicht dabei war.
Und da hat er dann auch geliefert, er hat ein Tor gemacht und gut gespielt. Ich glaube auch, dass ihm die Verantwortlichen beim DHB vermitteln, dass er ebenso Teil des Teams ist wie die anderen Spieler.
Sie haben reichlich Turniererfahrung, sind unter anderem zweimal Europameister und einmal Weltmeister geworden. Haben Sie Ihrem Neffen vor der EM ein paar Tipps gegeben?
Nein, so viel braucht man ja eigentlich überhaupt nicht geben. Er war ja auch schon bei der Junioren-WM dabei. Das darf man sich jetzt nicht anders vorstellen, weil er dort auch den Rhythmus, jeden zweiten Tag zu spielen, hat. Vom Ablauf her ist es ja nicht anders. Das einzige, was jetzt natürlich anders ist, ist die Kulisse sowie das Medieninteresse. Aber das muss er selbst erleben.
Lichtlein über Österreich-Spiel: "Nicht auf die leichte Schulter nehmen"
Der Hauptrundenauftakt ist geglückt, am Samstag geht es schon direkt gegen Österreich weiter, die bei dieser EM schon für die ein oder andere Überraschung gesorgt haben. Wie schätzen Sie die Österreicher ein?
Österreich war bis jetzt noch nicht so als Handball-Nation bekannt. Aber jetzt haben sie auf jeden Fall Chancen aufs Halbfinale. Sie haben jetzt schon drei Punkte und eine gute Ausgangsposition. Deswegen dürfen wir das Spiel nicht auf die leichte Schulter nehmen - vor allem auch nicht mit dem Restprogramm, das noch kommt. Wir sollten auf jeden Fall gewarnt sein, aber wenn wir unsere Leistung zusammen mit dem Publikum abrufen, glaube ich schon, dass wir gegen Österreich gewinnen werden.
Danach spielt Deutschland noch gegen Ungarn und Kroatien. Glauben Sie, Deutschland packt den Einzug ins Halbfinale?
Wenn Andi Wolff weiter so hält, packt es Deutschland. Die Abwehr zusammen mit dem Torhüter entscheidet die Spiele und wenn wir weiterhin auf dem aktuellen Niveau bleiben, dann schaffen wir es. Wir dürfen uns aber keine Schwächephase erlauben. Wir müssen wirklich an unser Limit gehen, ans Optimum, weil du wahrscheinlich alle Spiele gewinnen musst, um weiterzukommen.
Und im Angriff?
Wir müssen die Fehler minimieren und konzentriert spielen. Wenn wir weniger Ballverluste haben, machen wir natürlich auch nochmal einen Riesenschritt nach vorne. Aber hinten, die Abwehr gemeinsam mit dem Torwart, bleibt der entscheidende Faktor.
Kurz und knapp: Wer wird Europameister?
Da kann ich sagen, was wahrscheinlich jeder schätzt: Dänemark.
Sie sind mittlerweile Torwarttrainer bei der MT Melsungen. Aktuell ist die Mannschaft Vierter in der Bundesliga. Welche Ziele hat der Klub noch für den Rest der Saison?
Wir haben erstmal das wichtige Pokalspiel gegen die TuS N-Lübbecke. Wenn wir das gewinnen, sind wir beim Final4 in Köln dabei - das ist natürlich unser großes Ziel. Ansonsten versuchen wir, weiter oben zu bleiben. Unser Ziel ist es, einen internationalen Platz für nächstes Jahr zu ergattern.
Über den Gesprächspartner
- Carsten Lichtlein (Jahrgang 1980) ist ein ehemaliger deutscher Handballspieler. Mit der Nationalmannschaft wurde er 2004 und 2016 Europameister sowie 2007 Weltmeister. Zudem gewann er mit dem TBV Lemgo 2006 und 2010 den EHF-Pokal. 2022 beendete Lichtlein seine aktive Karriere, mittlerweile ist er als Torwarttrainer bei Bundesligist MT Melsungen tätig. Als Torwarttrainer der deutschen Juniorennationalmannschaft war er zudem bei der U21-WM dabei, als Deutschland Weltmeister wurde.
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