Südkorea ist bisher eine der Enttäuschungen dieses Turniers, auch wenn das Team nicht zum erweiterten Kreis der Titelfavoritinnen gehörte. Allerdings war die Erwartung, dass Südkorea um den zweiten Platz in der Gruppe mitkämpfen kann.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Annika Becker (FRÜF) sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Nach den 0:2- und 0:1-Niederlagen gegen Kolumbien und Marokko steht das Team rund um Ji So-yun allerdings mit dem Rücken zur Wand und bräuchte neben einem eigenen hohen Sieg gegen Deutschland auch eine Niederlage Marokkos gegen Kolumbien.

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Der Trainer

Colin Bell ist in Deutschland bestens bekannt, der 61-Jährige führte im Jahr 2015 den 1. FFC Frankfurt (seit 2020 Eintracht Frankfurt) zum Champions League Titel mit einem 2:1-Sieg über Paris Saint-Germain. Bell war zwischen 2017 und 2019 auch Trainer des Nationalteams von Irland und war als Spieler unter anderem für Leicester City und den FSV Mainz 05 aktiv.

Die Südkoreanerinnen trainiert der Engländer nun seit vier Jahren. Mit Südkorea ist sein bisher größter sportlicher Erfolg das Erreichen des Finales des AFC Women's Asian Cup 2022, als man China 3:2 unterlag, sowie die Qualifikation für die WM.

Im Interview mit der Fifa erzählte Colin Bell vor dem Turnier von Problemen während der Pandemie und bedankte sich gleichzeitig beim südkoreanischen Fußballverband: "Wir hatten sehr große Probleme mit COVID. Ich selbst bin schwer erkrankt und musste auf dem Höhepunkt der Pandemie im Krankenhaus behandelt werden. Der koreanische Fußballverband hat auf all das fantastisch reagiert.”

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Der Fußball im Land

Wie in vielen Ländern ist auch in Südkorea die Förderung des Fußballs der Frauen ein Problem, einen ganzheitlichen Ansatz wie zum Beispiel in Japan gibt es nicht. Das betonte der Trainer auch nochmal auf der Pressekonferenz vor der Partie gegen Deutschland. Bell hält sich mit Kritik am eigenen Verband nicht zurück, nach der 0:1-Niederlage gegen WM-Neuling Marokko wurde er erneut sehr deutlich: "Unser Spiel ist zu langsam. In Korea gibt es keine Intensität oder nicht genug Intensität. Die Trainingseinheiten sind zu lang und nicht intensiv", so Bell.

Grund dafür sei unter anderem das Ligasystem, in dem es keinen Abstieg gibt, denn die semi-professionelle WK-League ist die einzige Liga für Frauen im Land. Letztes Jahr gewann der Verein Incheon Hyundai Steel den Wettbewerb zum zehnten Mal in Folge. Aus Bells Sicht sind daher die meisten Spielerinnen keinen ernsthaften Wettbewerb mit Konsequenzen und dem entsprechenden Druck gewohnt. Er fordert deshalb drastische Veränderungen: "Ich sage das jetzt schon seit vier Jahren. Ich werde es so lange wiederholen, bis alle es satthaben, es zu hören, und es vielleicht, hoffentlich, Veränderungen gibt. Denn wenn man sich nicht verändert, bleibt man stehen und kommt nicht voran."

Dafür, dass sich Dinge verändern, setzen sich auch aktive wie ehemalige Nationalspielerinnen ein. Im Jahr 2021 wurde Ji So-yun zur Co-Präsidentin der koreanischen Spieler*innengewerkschaft KPFA (Korean Professional Footballers Association) ernannt.

Die ehemalige Nationaltorhüterin Kang Ga-ae ist eines von sieben weiblichen Vorstandsmitgliedern der Gewerkschaft. Sie schreibt in einem Artikel für Fifpro unter anderem: "Eine der größten Herausforderungen ist die Lohnobergrenze in der WK-Liga. Sie gilt seit 2009, und obwohl die Lebenshaltungskosten im Laufe der Jahre erheblich gestiegen sind, ist die Grenze in den letzten 13 Jahren gleich geblieben. Nach etwa fünf Jahren haben viele Spielerinnen das Maximum erreicht, und es ist egal, wie viel härter sie arbeiten oder wie viel besser sie sind, ihr Gehalt wird nicht steigen. Auch ich verdiene seit vielen Jahren das gleiche Gehalt. Der Fußball der Frauen ist der einzige Sport in Korea, in dem es eine Lohnobergrenze gibt."

Der Kader

Südkorea hat einen der ältesten Kader dieses Turniers, 12 der 23 Spielerinnen sind 30 Jahre oder älter. Dem gegenüber steht mit Casey Phair eine 16-Jährige mit auf der Liste, die durch ihren Einsatz beim Auftakt gegen Kolumbien zur jüngsten WM-Spielerin aller Zeiten mit 16 Jahren und 26 Tagen wurde. Schon ihre Nominierung löste große Aufmerksamkeit aus, nicht nur wegen ihres Alters, sondern weil sie zur ersten Nationalspielerin Südkoreas wurde, die zwei Nationalitäten hat.

Phair wurde in den USA geboren und spielt dort in einem Nachwuchsleistungszentrum. Mit ihrer Geschwindigkeit und Unbekümmertheit sorgte sie bei ihren Einsätzen für die wenigen Lichtblicke Südkoreas bei diesem Turnier bisher. Bell gibt sich aber große Mühe, das Nachwuchstalent vor dem größten Medientrubel zu schützen.

Eine wichtige Spielerin ist zudem Lim Seonjoo, eine Stütze in der Abwehr; ihr Einsatz war am Tag vor der Partie jedoch noch fraglich, sie hatte sich während des Aufwärmens für das Marokko-Spiel verletzt.

Der Star

Was den Namen angeht, ragt Ji So-yun aus dem Kollektiv heraus. Sie dirigierte lange Jahre das Mittelfeld des FC Chelsea, gewann dort unter anderem sechs Meisterschaften und viermal den FA Cup. Sie wechselte erst im Sommer 2022 erstmals in die eigene Heimat zum Suwon FC. Die 32-Jährige war in ihrer Hochphase eine der besten Mittelfeldspielerinnen der Welt mit der Fähigkeit, ein Spiel allein zu entscheiden. Auch jetzt noch ist ihre Technik von großer Bedeutung für Südkorea; sie kann Bälle sehr gut festmachen und sich mit geschickten Drehungen aus dem gegnerischen Pressing lösen.

Ihre Zweikämpfe gewinnt sie mit Timing und Technik und ist dann in der Lage, ihre Mitspielerinnen mit genauen Pässen einzusetzen, sowohl flach wie auch durch lange Chipbälle über die gegnerische Abwehr hinweg. Aus deutscher Sicht wird es eine der Aufgaben für das Mittelfeld sein, sie möglichst aus dem Spiel zu nehmen, indem sie robust verteidigt oder isoliert wird.

Der Spielstil

Bell legt in seiner Kommunikation nach außen sehr viel Wert auf das Wort "Selbstvertrauen". Das bestimmt inzwischen nicht nur seine eigenen Interviews, sondern auch die seiner Spielerinnen.

Ein reines Buzzword soll dies aber nicht sein, sondern sich vielmehr in der spielerischen Herangehensweise wiederfinden: "In den vergangenen Jahren gehörte es zur koreanischen Spielweise, gegnerischen Druck zu absorbieren und abzuwarten, was passiert. Aber nun wollen wir proaktiver und mit mehr Selbstvertrauen spielen. Das war einer der Faktoren, dass wir zum ersten Mal in der Geschichte des koreanischen Frauenfußballs ein Finale erreicht haben."

Bei dieser WM war davon bisher noch nicht viel zu sehen, mit zwei Niederlagen steht Südkorea am letzten Spieltag der Gruppenphase schlechter da als erwartet. Das Herzstück des Kaders ist das Mittelfeld mit Ji So-yun und Lee Geum-min, die bei Brighton eigentlich eine Stürmerin ist, aber auch auf einer zurückgezogenen Position eingesetzt werden kann. Südkorea ist unter Bell bekannt dafür, taktisch flexibel zu sein und die eigene Formation auch während der Partie an das Geschehen anpassen zu können, während des Turniers war es die meiste Zeit eine Dreier- beziehungsweise Fünferkette mit zwei Spitzen.

Zu den Stärken gehören die Technik und das Positionsspiel. Gegen physisch stärkere Gegner gelang es bei dieser WM aber im Gegensatz zu Japan etwa bisher nicht, diesen Nachteil über das Kollektiv und taktische Feinheiten zu kompensieren. So galt Südkorea eigentlich vor der WM als defensivstark, bekam aber bereits drei Gegentore in den ersten beiden Spielen gegen Kolumbien und Marokko, mit weiteren teils großen Chancen auf der gegnerischen Seite.

Der Moment der WM-Historie

Im letzten Gruppenspiel der WM 2015 in Kanada musste Südkorea gegen Spanien antreten, das zu der Zeit noch längst nicht das Level von heute erreicht hatte. Trotzdem war der zum Weiterkommen benötigte Sieg alles andere als klar.

Die Spanierinnen gingen durch Verónica Boquete mit 1:0 in Führung und in die Pause, doch danach drehte Südkorea das Spiel: Cho So-hyun mit einem Kopfball nach einem Konter über die rechte Seite (53.) und Kim Soo-yun mit einer abgerutschten Flanke, die am langen Pfosten ins Tor einschlug (78.), trafen zum 2:1-Endstand, Spielerin des Spiels wurde Ji So-yun. Korea erreichte erstmals das Achtelfinale, musste sich dort allerdings Frankreich geschlagen geben.

Verwendete Quellen:

  • fifa.com: Bell: Die Republik Korea kann jeden Gegner schlagen
  • sportstar.thehindu.com: FIFA Women’s World Cup: Coach Bell takes aim at South Korea’s league system as exit looms
  • fifpro.org: Historic initiative: Korean PFA led by male and female player
  • fifpro.org: Kang Ga-ae: "We're making women’s football more visible in Korea"
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