Wie alles begann, weiß heute niemand mehr genau. Wo alles begann, dagegen schon. Ashbourne, ein unscheinbares Kaff im englischen Nirgendwo, wird vor rund 400 Jahren zur Geburtsstätte eines Mythos.
Einige hundert Männer erfinden in einem Wettstreit zwischen Ober- und der Unterstadt mehr oder weniger zufällig eine Geschichte voller lokaler Rivalität und Emotion, Hingabe, Leidenschaft und Rache. Es ist die Geburtsstunde der Derbys, benannt nach der gleichnamigen Grafschaft, in die Ashbourne sich einbettet. Es ist ein Vergleich ohne große Regeln, das Ziel aber ist klar definiert: Ein Ball muss über mehrere Kilometer in eine Art Tor der gegnerischen Mannschaft transportiert werden.
Wenn man so will, könnten die Derbys der Urzeit auch als erste Form des Fußballs durchgehen. Zweieinhalb Jahrhunderte, bevor 1866 das erste Derby Englands den Auftakt zu einem Spektakel macht, das bis heute nichts an seiner Faszination und Brisanz verloren hat.
Klassiker: Celtic Glasgow gegen die Rangers
Das Stadtduell zwischen Nottingham Forest und Nott County gibt den Startschuss und verleiht seitdem jedem Lokalvergleich auf der ganzen Welt seinen ganz speziellen Beinamen.
Heute ist der Mythos längst verwässert. Wenn sich 1899 Hoffenheim mit dem VfB Stuttgart misst, wird sofort das baden-württembergische Derby ausgerufen. Völlig ungeachtet der Tatsache, dass es für den VfB nur ein Derby geben kann; das gegen den Stadtrivalen SV Kickers.
Aber selbst der inflationäre Gebrauch der Vokabel konnte dem Mythos bis heute kaum etwas anhaben. Mit den bizarren Anekdoten haben hunderte Autoren schon tausende Bücher gefüllt. Ein Derby lebte und lebt bis heute von der Geschichte und seinen Geschichten.
Die meisten haben wohl Celtic Glasgow und die Rangers zu erzählen. Das schottische Duell ist das am häufigsten ausgetragene Derby der Welt, schon 392 Mal standen beide Klubs einander gegenüber. Das häufigste und zugleich auch älteste Derby in Deutschland spielen der 1. FC Nürnberg und SpVgg Fürth (heute Greuther Fürth) seit 109 Jahren untereinander aus.
Es sind zumeist Stadtteil- oder Nachbarschaftsduelle, definiert durch geographische Gesichtspunkte. Es geht aber auch um Lokalpatriotismus, Politik, Sozial- oder Klassenstatus, Religion und Rebellion.
Wenn sich früher der BFC Dynamo Berlin, Klub der DDR-Bosse und der Staatssicherheit, mit Union Berlin gemessen hat, war das auch immer eine Art Guerrilla-Kampf der unterdrückten Bevölkerung gegen das Regime.
Als Anfang 2011 die Revolution Einzug in viele Staaten Nordafrikas hielt, wurde in Ägypten der Ligabetrieb ausgesetzt. Ein Aufeinandertreffen zwischen El-Zamalek, dem Klub der Regierung, und Al-Ahly, dem Symbol der wütenden Bürger, machte Machtinhaber Husni Mubarak Angst. Die Opposition könnte sich dadurch noch schneller und geschlossener formieren. Letztlich half ihm dann selbst der Stopp der ägyptischen Liga nicht mehr viel.
Südamerika bietet die heißesten Derbys
Beim heißesten Derby Südamerikas zwischen River Plate und den Boca Juniors geht es weniger um Politik, als um den Konflikt sozialer Klassen. Auf der einen Seite River Plate, einst wie Boca im Hafenviertel von Buenos Aires gegründet.
Dann aber zog der Klub in den reichen Norden der Stadt und wurde zum Symbol und Fixpunkt der feinen Gesellschaft - während Boca seinen Wurzeln bis heute treu bleibt und immer noch der Klub der einfachen Leute ist.
Die Duelle beider Mannschaften sind in Argentinien Feiertage und zugleich auch Tage der Angst. Schon viel zu oft blieb der Gästeblock leer, weil die Angst vor blindwütigen Ausschreitungen und zügelloser Gewalt zu groß war.
Der Superclasico wurde bereits 1968 zum traurigen Schauplatz einer Tragödie, als 73 Menschen ums Leben kamen, weil nach der Partie eine Massenpanik ausbrach, einige Stadiontore aber nicht geöffnet wurden. Als dann vor 17 Jahren ein Derby für Boca 0:2 verloren ging, gab einer der Bosse der berüchtigten Ultra-Gruppierung "La 12" den Mord an zwei River-Fans in Auftrag. Das Land reagierte geschockt, die zynische Parole "Empatamos! Wir haben zum 2:2 ausgeglichen", an den Häuserwänden in Buenos Aires entsetzte nicht nur die Menschen in Argentinien.
Es war und ist ein Grundübel einiger Derbys, dass allzu oft die Rationalität vollends in den Hintergrund rückt, eine falsche Art von Folklore die Überhand gewinnt – um dann letztlich in schlimmen Gewaltexzessen zu enden.
Ähnlich brisant sind in Europa die Duelle zwischen Roter Stern Belgrad und Partizan Belgrad bzw. das Derby zwischen Panathinaikos Athen und Olympiakos Piräus. In Belgrad ging und geht es immer auch um Politik, selbst berüchtigte Kriegsverbrecher sollen im Zuge des Bürgerkriegs ihre Kämpfer aus den jeweiligen Fanlagern rekrutiert haben. In Belgrad kommt es dazu bis heute zu wahren Pyro- und Bengalo-Schlachten zwischen den Fanlagern.
In Griechenland sind es sozio-kulturelle Unterschiede, die die Rivalität der Reichen (Panathinaikos) gegen die Armen (Piräus) ausmachen. Den unrühmlichen Tiefpunkt der Feindschaft markierte 2007 der Mord an einem 22-jährigen Pana-Fan am Rande eines Frauen-Volleyballspiels. Mihalis Filopoulos wurde einfach niedergestochen.
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Politische Konfrontation
Völlig unverblümt stellen beim Römer derby della capitale zwischen dem AS und Lazio beide Fangruppen ihre rechte Gesinnung zur Schau. Dann geht es auf den Rängen um den Führungsanspruch im rechten Lager.
Zwischen den Rangers und Celtic geht es im "Old Firm" neben dem politischen Aspekt - die Rangers schwören auf Establishment und Union Jack, Celtic ist der Klub der armen irischen Einwanderer - in erster Linie um die Demarkationslinie zwischen Protestanten (Rangers) und Katholiken (Celtic).
Der heutige ManUnited-Coach Sir Alex Ferguson wurde einst sogar bei den Rangers rausgemobbt, weil er es gewagt hatte, eine Katholikin zu heiraten. Zuletzt sorgte das Derby im Frühjahr 2011 für großen Aufruhr, als im Vorfeld der Partie Briefbomben an Spieler von Celtic adressiert wurden.
Ursprünglich rein geographischer Natur war die Rivalität zwischen Galatasaray und Fenerbahce in Istanbul. Gala kommt aus dem europäischen Stadtteil Mecidiyeköy, während Fener im anatolischen Kadiköy stammt beheimatet ist - ein Duell zwischen Europa und Asien in einer Stadt.
In Deutschland steigt das hitzigste Derby im Ruhrpott zwischen Borussia Dortmund und dem FC Schalke 04. Hier geht es nicht um Religion, Sozialstatus, politische Ideologien - sondern nur um Fußball.
Viele jener Derbys spielen sich beinahe unbemerkt von der Weltöffentlichkeit ab. Der Clasico in Spanien sprengt aber global fast alle Grenzen. Die Partie zwischen dem FC Barcelona und Real Madrid ist mehr als nur ein Spiel.
Es ist der Vergleich der Systeme, der Weltanschauungen, des alt-ehrwürdigen Spaniens gegen die unterdrückte Region Katalonien und schon traditionell auch immer das Spiel mit der größten Dichte an Weltstars auf dem Platz.
Spätestens mit dem Streit um Alfredo di Stefano, der eigentlich schon in Barcelona unterschrieben hatte, dann aber doch zu Real Madrid wechselte, begann eine unverwechselbare Feindschaft, die in den 60er und 70er Jahren durch die Franco-Diktatur immer groteskere Züge annahm.
Franco unterstützte den königlichen Klub aus der Hauptstadt und erfand - zumindest aus Sicht der Katalanen - immer neue Repressalien, um den FC Barcelona kleinzuhalten.
Franco ist in Spanien zwar längst Geschichte, die Feindseligkeit zwischen beiden Lagern hat sich aber dennoch bis heute gehalten. Immerhin kommt es auf den Rängen schon lange nicht mehr zu gewalttätigen Auseinandersetzungen.
Völlig egal, wo und in welcher Liga auf der Welt ein Derby ansteht - es zieht die Menschen ins einen Bann. Dann geht es um mehr als nur den Sieg. Es geht um Glanz und Gloria und auch um Demütigung des Gegners.
In Ashbourne, Grafschaft Derby, wollte man seinerzeit noch gar nicht so weit denken. Wurde der Ball entlang des Flusses Henmore durch die zwei großen Mühlsteine, die das gegnerische Tor markierten, getragen, waren alle Rivalität und Feindseligkeit schon gleich wieder vergessen. Auch wenn einige im unkontrollierten Kampf um den Ball einen viel zu frühen Tod ereilte.
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