Auf eine überragende erste Hälfte lässt die deutsche Nationalmannschaft gegen Italien eine zittrige zweite folgen. Was wie ein Rückfall in alte Zeiten wirkt, könnte sich auf dem Weg zum großen Ziel aber noch als überaus nützlich erweisen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Rommel sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

An den Spieler Rasmus Elm dürften sich die meisten deutschen Fans kaum noch erinnern. Dabei hat Elm im Berliner Olympiastadion mal ein Tor erzielt, dass die deutsche Fußball-Nation in ihren Grundfesten erschütterte: ein vierter schwedischer Treffer innerhalb einer guten halben Stunde, das 4:4 in der Nachspielzeit - nach einem 4:0-Vorsprung der deutschen Nationalmannschaft.

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Der Abend von Berlin damals war ebenso einmalig wie heilsam, weil er die Sinne schärfte bei einer Mannschaft, die so leicht und losgelöst Fußball spielen konnte, mitunter aber dann auch sorglos und nachlässig wurde. Und vor elf Jahren schon eine Blaupause lieferte für das, was sich am Sonntagabend im Dortmunder Westfalenstadion abspielte.

Zweite Hälfte weckt Erinnerungen

Beim 3:3 der deutschen Nationalmannschaft gegen Italien wurden im Verlauf der zweiten Hälfte nicht nur vage Erinnerungen wach an damals. Auf einen geradezu rauschhaften ersten Durchgang folgte ein veritabler Ein-, aber immerhin kein Zusammenbruch. Was Julian Nagelsmann am Ende sogar doppelt erfreute.

Der Bundestrainer hätte hadern und schimpfen können nach dem Spiel, auf der Suche nach Erklärungen für diesen merkwürdigen Leistungsabfall seiner Mannschaft. Nagelsmann aber blieb erstaunlich sachlich und vor allen Dingen um den Kontext bemüht. Seine Einordnung jedenfalls drehten sich mehr um das große Ganze denn um diese eine schwache Halbzeit gegen Italien.

"Vielleicht ist es für uns auch besser, wenn wir heute nicht 4:0 gewinnen, sondern merken, was wir leisten können, wie gut wir Fußball spielen können - aber dass wir diesen guten Fußball einfach über das ganze Spiel zeigen müssen", sagte Nagelsmann am "RTL"-Mikrofon und das war nicht nur richtig, sondern auch weitsichtig genug vom Bundestrainer.

Deutschland zeigt, was es kann

Beide Spiele wollte Nagelsmann gegen die Italiener gewinnen auf dem Weg zum ersten großen Etappenziel, dem Triumph in der Nations League. Das hat zwar nicht ganz geklappt, trotzdem freute sich der Bundestrainer über einen "echten" und einen gefühlten Sieg gegen die Squadra Azzurra, die ja immer noch so etwas wie der Angstgegner deutscher Nationalmannschaften ist.

Nach dem mehr als soliden Auftritt vor wenigen Tagen in Mailand dürfte die Leistung seiner Mannschaft in den ersten 45 Minuten von Dortmund, die ein Meilenstein in der Entwicklung dieser, seiner, Mannschaft sein kann.

Es ist schon ein paar Jahre her, als eine deutsche Mannschaft einen Gegner dieser Kategorie derart an die Wand gespielt hat. Deutschland erdrückte die Italiener regelrecht, schnürte den fast schon bemitleidenswerten Gästen mit überragendem Gegenpressing die Luft zum Atmen ab, kesselte den Gegner immer wieder tief in dessen Spielhälfte ein und rollte Angriff auf Angriff auf das italienische Tor.

Nagelsmanns Idee, zum ersten Mal seit dem desaströsen 0:2 gegen Österreich im Herbst 2023 wieder auf eine Dreierkette und dafür deutlich mehr Flügelfokus in der Offensive mit zwei Schienenspielern zu setzen, ging komplett auf. Die Mannschaft spielte teilweise wie im Rausch, manch einer wollte sich sogar erinnert fühlen an das sagenhafte 7:1 gegen Brasilien.

Kimmich: "Das war schon sehr, sehr sexy"

"Die erste Halbzeit war tatsächlich, glaube ich, sehr, sehr sexy anzugucken. Da haben wir wirklich einen guten Ball gespielt, hatten absolut die Kontrolle", sagte Kapitän Joshua Kimmich, der in beiden Spielen an allen fünf deutschen Treffern beteiligt war (vier Assists, ein Tor).

Es sei "die beste erste Hälfte" seiner bisherigen Amtszeit gewesen, sekundierte Nagelsmann. "Das war schon sehr beeindruckend in allen Phasen des Spiels. Mit Ball sehr gut, defensiv unfassbar aggressiv. Wir haben auch in der Höhe, denke ich, verdient geführt." Nach drei Toren und 18 Torschüssen in lediglich 45 Minuten wollte dem Bundestrainer niemand widersprechen.

Zweiter Durchgang mit Alarm-Wirkung

Umso bemerkenswerter, wie zum einen die Italiener nach einer desaströsen ersten Hälfte und einem Gegentor wie jenem von Jamal Musial, der nach einer Ecke in aller Ruhe den Ball ins Tor löffeln konnte, während die italienische Mannschaft noch debattierte, auf einmal wieder zurück ins Spiel fanden.

Und wie die deutsche Mannschaft nach einer missglückten Szene - einem Fehlpass von Leroy Sane und dem daraus resultierenden ersten Gegentreffer - immer fahriger wurde.

Nagelsmanns frühe und zu diesem Zeitpunkt nicht zwingend notwendigen Wechsel zerstörten jegliche Struktur in der deutschen Mannschaft, die fortan "fast nur noch zurück, statt nach vorne" spielte, wie Nagelsmann erklärte. Und deshalb kratergroßen Lücken zwischen den Mannschaftsteilen aufwies, wo in der ersten Halbzeit noch ein kompakter Block auf Balljagd ging.

Weshalb der Gegner immer stärker und die deutsche Mannschaft immer ängstlicher wurde und am Ende das Remis und damit den Einzug ins Final-Four-Turnier irgendwie über die Zeit rettete.

Trotzdem das Optimum ausgeschöpft

Neben der Aussicht auf nun zwei Spiele bei dieser Art Mini-EM in Stuttgart und München im Juni war Nagelsmann am Ende sogar froh über die Probleme und Schwächen der zweiten Halbzeit - lieferten sie ihm doch auf dem Weg zum eigentlichen Ziel im Sommer kommenden Jahres mehr Resonanz als bei einem glatten Sieg.

"Ich gehe heute nach Hause mit dem Wissen, was wir leisten können und auch, dass wir noch ein bisschen was zu tun haben. Aber das ist ja auch schön!" Im Sinne der Weiterentwicklung der Mannschaft haben die beiden Spiele gegen Italien jedenfalls das Optimum ausgeschöpft.

Deutschland hat das Endturnier der Nations League erreicht und in den beiden Heimspielen nun die Chance auf einen Titel. Und damit im Gegenzug auch eine kleinere und vermutlich auch leichtere Gruppe in der WM-Qualifikation erwischt, die wegen der Termine im Sommer für die Mannschaft erst später starten und weniger umfangreich wird.

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Dazu gab es reichlich inhaltliche Erkenntnisse und einige Spieler, die sich in den Vordergrund spielen oder wieder zurückmelden konnten. Plus die Gewissheit, dass die Fußball-Nation wieder Spaß an der Nationalmannschaft hat und Spiele wie jenes im Halbfinale gegen Portugal im Juni zu Festtagen werden können.

Und weil man besonders aus Fehlern viel lernen kann, dürfte auch die zweite Halbzeit gegen Italien in der Nachbetrachtung noch einige wichtige Anhaltspunkte liefern und vielleicht sogar eine heilsame Wirkung entfalten. So wie Rasmus Elms Tor damals, das auf dem Weg zur WM in Brasilien als kleines Mahnmal diente. Der Ausgang des Turniers 2014 ist bekannt.

Verwendete Quellen