Mesut Özil ist infolge der Kritik am Erdogan-Foto und des DFB-Verhaltens aus der Nationalmannschaft zurückgetreten. Integrationsforscher Prof. Dr. Hacı-Halil Uslucan erklärt im Interview, warum Integration nicht allein eine Frage der Identifikation ist, wie junge Talente mit Migrationshintergrund den Rücktritt aufnehmen könnten und was die Debatte nun braucht. Außerdem äußert er sich zum Verhalten des DFB im Fall Özil und attestiert dem Verband ein "Foulspiel".
Meust Özil ist aus der Nationalmannschaft zurückgetreten und hat in einem Schreiben mitgeteilt, er sehe sich als Opfer von Rassismus. Wie viele Deutschtürken dürften dieses Gefühl teilen?
Hacı-Halil Uslucan: Wir erforschen die Erfahrung der Diskriminierung am Zentrum für Türkeistudien in jährlichen Umfragen. Dabei fragen wir: "Haben Sie in dem letzten Jahr die Erfahrung der Ungleichbehandlung gemacht?" Das ist zwar nicht genau dasselbe wie Rassismus, aber im Schnitt antworten 60 bis 80 Prozent der Deutschtürken mit "Ja". Es handelt sich also nicht um eine marginale oder singuläre Erfahrung.
Mit seinem Rücktritt stößt
Seit 2010 wird die Integrationsdebatte sehr stark über die Türkeistämmigen und die Muslime geführt. Große Teile dieser Schnittmenge haben das Gefühl, dass in Deutschland alle Integrationsprobleme nur an den Türkeistämmigen abgearbeitet werden.
Sie haben außerdem das Gefühl, dass ähnlich politisch bedenkliche Entwicklungen - beispielsweise die AfD-Nähe in der deutsch-russischen Community - nicht in der Form thematisiert werden wie die Erdogan-Nähe der Türkeistämmigen. Durch diese Empfindung der Ungleichbehandlung fühlen sich viele Türkeistämmige stärker im Visier der Öffentlichkeit und nicht dazugehörig.
In unserer letzten Studie haben wir festgestellt, dass die Zuwendung zur Türkei zunimmt, während der Bezug zu Deutschland eher abnimmt. Es zeigt sich auch, dass die Türkeistämmigen die Integration im Vergleich zu Menschen mit etwa polnischem Migrationshintergrund am skeptischsten beurteilen.
In Deutschland leben auch viele Menschen mit polnischem oder russischem Migrationshintergrund. Warum fokussiert sich die Debatte gerade auf die Deutschtürken?
Das hat verschiedene Gründe. Da geht es zunächst um die Frage der Sichtbarkeit: Muslimische oder Türkeistämmige werden deutlicher als "Andere" wahrgenommen. Bei polnisch- und russischstämmigen Menschen mag zudem eine religiöse Nähe hinzukommen. Auch die Identifikation mit Deutschland spielt eine Rolle: Die Deutsch-Russen sind oft eher bereit, die deutsche Sprache als die "eigene Muttersprache" wahrzunehmen.
Die Debatte zwischen Deutschen und Deutschtürken wurde zudem durch verschiedene Ereignisse belastet und die unterschiedlichsten Dinge haben sich kulminiert: Angefangen mit Thilo Sarrazin und den Themen Islam und Terror bis hin zu Nazi-Vergleichen durch Erdogan, Auftrittsverboten und Doppelpass-Diskussionen.
Wer sich an das TV-Duell im Wahlkampf zwischen Merkel und Schulz erinnert: Ein Drittel der Redezeit drehte sich um die Türkei. Wir sind doch nicht im Krieg miteinander, Deutschland und die Türkei haben seit Jahrhunderten in der Regel eine positive Beziehung. Die politische Debatte wird unnötig scharf und hart geführt, das irritiert viele Türkeistämmige.
Wo liegt die Grenze: Wann ist jemand gut integriert, respektiert aber die Wurzeln zu seinem Heimatland und an welcher Stelle ist Integration gescheitert?
Ein solches Kriterium gibt es nicht. Wir müssen Pluralität in der Gesellschaft als Normalität betrachten und uns damit abfinden, dass Menschen auch positive Beziehungen zu ihrem Herkunftsland haben. Integration ist nicht allein eine Frage der Identifikation. Das ist nur ein Aspekt, viel wesentlichere Aspekte sind: gleichberechtigte Teilhabe auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und im Bildungsbereich, soziale Beziehungen in der Nachbarschaft, Freundschaften und Partnerschaften.
Wenn in diesen Bereichen die Integration gut gelingt, dann kann man sich auch als Teil der Gesellschaft fühlen. Wer aber im Alltag die Erfahrung macht, nicht dazuzugehören und auf dem Arbeitsmarkt nicht die gleichen Chancen hat, wenn man sich mit einem Türkisch klingenden Namen bewirbt, tut sich schwer zu sagen: "Ich bin Teil dieses Landes".
Warum ist es vielen so wichtig, dass den Deutschtürken eine Entscheidung abgerungen wird, sich einzig und allein zu einem Land zu bekennen?
Das ist nach wie vor eins der größten Hemmnisse. In Bezug auf die Doppelpass-Debatte haben unsere Studien untermauert, wie wichtig den Türkeistämmigen der türkische Pass emotional ist. Die Hinnahme von Mehrstaatlichkeit - zumindest für einen begrenzten Zeitraum - könnte die gesamte Debatte deutlich entspannen.
Es macht keinen Sinn, 2050 noch zu sagen: "Mein Ur-Ur-Ur-Großvater ist in den 60er Jahren nach Deutschland eingereist, ich bin deshalb Migrant, obwohl ich nie woanders als in Deutschland gelebt habe." Mein Vorschlag ist daher, diesen Status über drei Generationen hinzunehmen. Das macht es Zuwanderern leichter zu sagen: "Ich habe herkunftskulturelle Bezüge, aber Deutschland ist mein neues Zuhause."
Welche Gefahren sehen Sie im Zusammenhang mit dem Rücktritt Özils?
Es ist definitiv ein schlechtes Signal. Sport ist einer der Bereiche, in denen Zuwanderer sich besonders gut und niedrigschwellig integrieren können: Die eigene Leistung, Motivation und Anerkennung sind unabhängig von elterlichen Voraussetzungen und die Sprachhürden sind vergleichsweise gering. Viele haben den Aufstieg nicht nur über Arbeit und Schule geschafft, sondern über den Sport.
Özil ist - ganz unabhängig von seinen politischen Einstellungen - ein großartiger Fußballer und spielt für die besten Clubs Europas. Wenn er das Gefühl hat, unerwünscht zu sein, bekommt der Sport als Integrationshelfer einen Makel.
Sowohl türkische als auch deutsche Nationalisten meinen nun, sie hätten Recht behalten. Die einen sagen: "Siehst du, du kannst dich assimilieren wie du willst, und wirst trotzdem nicht angenommen", und die anderen: "So einen wollen wir in der Nationalmannschaft nicht haben."
Sind junge Talente mit Migrationshintergrund nun weniger motiviert?
Sie könnten sich zumindest eher darin motiviert sehen, für die türkische Nationalmannschaft zu spielen. Es wird oft gar nicht daran gedacht, dass Özil sich auch anders hätte entscheiden können: Nuri Sahin vom BVB hat sich beispielsweise im Alter von 16 Jahren dazu entschlossen, für die türkische Nationalmannschaft zu spielen.
Was symbolisiert das deutsche Trikot?
Es sollte dafür stehen, dass man gemeinsame Ziele und Werte hat und sagt: "Deutschland ist unser Land." Im Sport brauchen wir nämlich ein "inklusives Wir" und keines, das differenziert, wer dazugehört und wer nicht. Man gewinnt als Mannschaft und man verliert als Mannschaft.
Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Gökay Sofuoglu, hat den Rücktritt der gesamten Spitze des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) gefordert, "damit ein echter Neuanfang für die deutsche Nationalmannschaft denkbar ist". Halten Sie das für ratsam?
Die Vorwürfe an den DFB sind generell berechtigt: Diejenigen, die eigentlich die Aufgabe haben, sich schützend vor einen Spieler zu stellen, haben selbst nachgetreten. In der Fußballwelt wäre das ein weiteres Foul gewesen.
Allein mit einem Rücktritt wird aber auch nicht erzielt, was an erster Stelle stehen sollte: Der DFB muss seinen eigenen Anspruch ernst nehmen, für Vielfalt zu stehen und Rassismus zu bekämpfen. Dafür müssen sich grundlegende Strukturen ändern.
Auch die Medien haben ihren Anteil daran gehabt, den Einzelnen als Symbol des Scheiterns zu präsentieren: Oft wurden Schlagzeilen wie "Deutschland vor dem Aus" mit Bildern untertitelt, auf denen Özil einsam auf dem Spielfeld stand. Das ist nicht nur eine große Belastung für einen jungen Spieler, sondern wirft auch in der türkischstämmigen Community die Frage auf: "Warum müssen wir hinhalten für das Scheitern?"
Özil hatte zuvor für sein Foto mit Erdogan selbst eine Menge Kritik einstecken müssen. So sagte etwa Cem Özdemir "Mit dem Alleinherrscher Erdogan zu posieren empfinde ich als respektlos denen gegenüber, die in der Türkei gegängelt werden oder willkürlich im Gefängnis sitzen", Özil sei "seiner Vorbildfunktion nicht gerecht geworden". Spielt Özil jetzt nur die Opferkarte?
Nein, ich denke nicht. Özdemir ist ein Politiker, denkt und agiert als solcher politisch sensibel. Özil aber ist Fußballer und hat nicht dasselbe politische Wissen und dieselbe Sensibilität. Seine Familie hat positive Bezüge zur Türkei und er hätte eine Ablehnung des Fotos wohl als Affront ihr gegenüber empfunden.
Übrigens gehen bei Übersetzungen auch kulturelle Gepflogenheiten verloren: Die Anrede "Mein verehrter Staatspräsident" ist im Türkischen ganz gewöhnlich, man redet jemanden mit Possessivpronomen an. Wir dürfen nicht mit zu hohen Erwartungen der politischen Sensibilität an Sportler herantreten, die nur schwer einlösbar sind. Hat Matthäus sie eingelöst? Hat Kahn sie eingelöst? Löst der DFB sie mit der WM in Katar ein
NRW-Integrationsstaatssekretärin Serap Güler (CDU), die selbst türkische Wurzeln hat, sagte der Bild-Zeitung, Verbundenheit mit dem Heimatland der Eltern und Kritik an der Regierung würden sich nicht ausschließen. Diesen Punkt scheine Özil aber "nicht verstanden zu haben". Weiter sagte sie mit Blick auf das Treffen mit Erdogan: "Die Einladung eines Autokraten auszuschlagen, wäre nicht respektlos gewesen. Es hätte Haltung gezeigt." Stimmen Sie zu?
Das ganze Treffen wurde meiner Ansicht nach mit Interpretationen überfrachtet. Wir erwarten von Sportlern zu viel politische Sensibilität. Natürlich wäre es wünschenswert gewesen, wenn er das Treffen abgelehnt hätte. Aber Özil hat auch durch seine Entscheidung, für die deutsche Nationalmannschaft zu spielen, Haltung gezeigt.
Er ist beispielsweise stark von der türkischen Community im Länderspiel Deutschland - Türkei ausgepfiffen worden. Özil hat damals aber gesagt: "Deutschland ist mein Land". Warum akzeptieren wir, dass sich Politiker mit Autokraten ablichten lassen und mit ihnen Deals machen, erwarten aber gleichzeitig, dass Sportler moralische Saubermänner sind?
Für Güler zeigt Özils Rechtfertigung, "wie nötig eine echte Wertedebatte ist". Wie sollte die Debatte nun am sinnvollsten weitergeführt werden?
Wir sollten vor allem die Vorannahmen, die in den Diskurs einfließen, sachlich überprüfen. Jeder Einzelne muss dafür seine vermeintlichen Annahmen über den Anderen hinterfragen. Dazu gehört dann auch deutlich zu machen, worauf die Kritik etwa am Bild mit Erdogan zielte. Nämlich darauf, dass es als Unterstützung für eine Politik gedeutet werden kann, die Minderheiten, Wissenschaftler und Journalisten nicht genug schützt und nicht auf ein allgemeines Türkei-Bashing.
Gleichzeitig muss aber auch klar sein, dass eine Debatte allein nicht ausreichend ist, sondern politische Konsequenzen folgen müssen, die mehr gemeinsame Begegnungen, Projekte und Ziele schaffen. Ich wünsche mir dabei auch mehr Geld für die politische Bildung, gerade in Hinblick auf Jugendliche mit Migrationshintergrund.
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