Mit einer guten Portion Pragmatismus und "alten Tugenden" gewinnt die deutsche Nationalmannschaft in Italien. Zum fast schon historischen Erfolg tragen einige Spieler aus der zweiten Reihe bei - und auch der Bundestrainer. Nun könnte eine kleine Revanche anstehen.
Julian Nagelsmann war noch nicht einmal geboren, als eine deutsche Nationalmannschaft zuletzt ein Spiel in Italien gewinnen konnte. Im Februar 1986 war das und die eher dunkle Epoche des deutschen Kraft-Fußballs.
Nun, fast vier Jahrzehnte später, durfte sich die aktuelle DFB-Auswahl in zwar ähnlichen Outfits - ganz schlicht in weißen Trikots und schwarzen Hosen gehalten - aber mit einer anderen Art des Fußballs endlich wieder über einen Erfolg im Land des Angstgegners freuen.
Das 2:1 im Viertelfinal-Hinspiel der Nations League hat nicht nur den Mini-Fluch gegen die Squadra Azzurra beendet, sondern verschafft der Nagelsmann-Mannschaft auch eine glänzende Ausgangsposition im Kampf um die erste Zwischenetappe auf dem Weg zur Weltmeisterschaft im kommenden Jahr.
Der Bundestrainer will Titel gewinnen, deshalb ist er den Job vor anderthalb Jahren angetreten. Und die erste Chance dazu bietet sich in der früher noch etwas belächelten Nations League, inklusive der Aussicht auf ein Mini-Sommermärchen: Das Final-Four-Turnier in diesem Sommer findet schließlich in Deutschland statt.
Auch deshalb war die Partie im Mailänder Stadtteil San Siro so wichtig für
Nagelsmann kleines Experiment geht nicht auf
"Die Mannschaft hat alles gegeben, um das Spiel zu gewinnen", sagte Nagelsmann nach der Partie in der "ARD", die für sein Team nicht hätte schlechter beginnen können. In einer fahrigen ersten Halbzeit geriet die DFB-Elf früh in Rückstand, fand auch auf Grund einer etwas veränderten Aufstellung und Ausrichtung nie so richtig in ihren Rhythmus. Die Idee, mit je zwei eher zentral orientierten Spielern in den Linien vor der Viererkette ins Spiel zu finden, ging nicht auf.
In den Momenten nach einem deutschen Ballverlust war zudem zu wenig Zugriff gegeben für ein effektives Gegenpressing. Und bis auf zwei Halbchancen im Anschluss an einen ruhenden Ball blieb die deutsche Mannschaft vor dem gegnerischen Tor ungefährlich.
Nagelsmanns kleines Experiment mit der etwas angepassten Spielausrichtung und gleich mehreren Überraschungen in der Startelf - die Mainzer Nadiem Amiri und
"Die erste Halbzeit war zäh, da sind wir kaum in die Abläufe gekommen", musste der Bundestrainer später zugeben. Aber Nagelsmann hat in seiner durchaus bewegten Zeit mit der Mannschaft auch gelernt, nicht (mehr) verbissen an eigenen Ideen festzuhalten, wenn diese nicht funktionieren und stattdessen mit einer guten Prise Pragmatismus darauf zu reagieren.
Nagelsmanns Umstellungen greifen sofort
Goretzka sollte ab der zweiten Halbzeit eine Linie offensiver agieren und immer wieder in den gegnerischen Strafraum mit eindringen, das probate Mittel der Halbfeldflanke wieder verstärkt zum Einsatz kommen.
Dafür brachte Nagelsmann mit dem Halbverteidiger Nico Schlotterbeck eine Absicherung auf der linken Seite ins Spiel und mit
"Zur Pause haben wir etwas angepasst und die Spieler, die reingekommen sind, haben es gut gemacht", sagte Nagelsmann, der keine vier Minuten auf eine erste zählbare Reaktion seiner Mannschaft warten musste.
Kleindiensts Kopfballtreffer nach einer Flanke von
"Wir haben gemerkt, dass die Italiener uns spielen lassen, hatten aber erst nicht das Personal, um die Box zu besetzen. Das Ziel war es, die eine oder andere Flanke reinzubringen. Ich habe Tim und Leon schon das eine und andere Mal gesucht", sagte Kimmich, der nicht nur beim Ausgleich die eine oder andere Flanke gefährlich vor das Tor zirkelte, sondern auch beim Siegtreffer durch Goretzka eine Ecke maßgeschneidert servierte.
Genug personelle und ideelle Alternativen
Der deutsche Plan B in der zweiten Halbzeit war insgesamt deutlich griffiger und passte besser zur Auswahl der Spieler. Und im deutschen Tor parierte die Übergangs-Nummer 1 Oliver Baumann wenigen echten Chancen der Italiener akkurat. "Wir haben ein bisschen zu viele Abschlüsse aus 15, 16, 17 Metern zugelassen, weniger direkt in der Box" so Nagelsmann. "Er hat uns da schon den Sieg gerettet."
Baumann in Vertretung des verletzten Marc-André ter Stegen, Goretzka als verkappter Zehner in der Rolle des ebenfalls verletzten Florian Wirtz oder Kleindienst als Kai-Havertz-Ersatz: Der so genannte zweite Anzug der Nationalmannschaft hat offensichtlich ganz gut gepasst.
Auch das ist eine Erkenntnis des Abends von San Siro: Die deutsche Mannschaft hat wieder genug personelle und konzeptionelle Alternativen - unter anderem waren die Offensiv-Standards eine stete Bedrohung für die Italiener - um auch Ausfälle wichtiger Spieler zu kompensieren und mehrere Lösungsmöglichkeiten einer Spielidee zu haben.
Vorfreude auf das Rückspiel
"Man hat gesehen, dass wir zwingend gewinnen wollten! Am Ende haben es meine Spieler einfach gut gemacht. Da kann der Trainer viele Ideen haben, am Ende müssen es die Spieler umsetzen. Am Ende sind alle gut reingekommen", gab Nagelsmann das Lob gerne an seine Mannschafft weiter.
Das DFB-Team darf sich also weiter berechtigte Hoffnungen auf den ersten Titel seit elf Jahren machen, die Ausgangslage dafür ist vor dem Rückspiel am Sonntag ist sehr gut. Aber: Noch ist erst "Halbzeit", die Bestätigung der guten Leistung von Mailand steht erst noch aus.
Die entscheidende Partie wird dann im Dortmunder Westfalenstadion stattfinden und schnell werden Erinnerungen wach: An das WM-Halbfinale 2006, als der spätere Weltmeister alle deutschen Träume zerstörte. Es wäre an der Zeit für eine kleine, verspätete Revanche und für das nächste große Spiel der deutschen Mannschaft.
Die Vorfreude darauf war jedenfalls unmittelbar nach dem Abpfiff in Mailand schon vorhanden. "Die Zuschauer haben die Italiener ihr Team hier heute super unterstützt", so Nagelsmann. "Aber ich glaube, in Dortmund wird es noch eine Spur lauter!"