Das blamable Ausscheiden der U21 bei der Europameisterschaft sollte niemanden mehr überraschen: Der deutsche Fußball hat den Kipppunkt längst erreicht. Und Besserung ist kaum in Sicht.
Ein paar Stunden vor dem Spiel der deutschen U21-Nationalmannschaft gegen England hat der Deutsche Fußball-Bund einen Schritt in die Zukunft gemacht. Die Wettbewerbsreform für die A- und B-Jugend-Bundesligen ist endlich verabschiedet. Im Kern geht es darum, dass der massive Erfolgsdruck etwas weichen und der Ausbildungscharakter wieder mehr in den Vordergrund rücken soll.
Fünf Jahre lang hat das nun gedauert von den ersten konkreten Ideen und Gesprächen bis zu deren Umsetzung; wenn die Reform ab der Spielzeit 2024/25 dann endlich auch in der Praxis greift, wird ein sechstes Jahr vergangen sein. Episoden wie diese illustrieren ganz gut, wie schwerfällig, zaudernd und irgendwann auch bräsig dieser Verband arbeitet - oder arbeiten muss.
Das föderalistische System ist, wie in der Politik, oft genug ein Hemmschuh, wenn Landesverbände mit ihren Provinzfürsten blockieren und jeder sein eigenes Süppchen am Köcheln hält, statt an das große Ganze zu denken. Auch deshalb geht es dem deutschen Fußball schlecht. Vielleicht so schlecht wie noch nie in seiner Geschichte.
Deutschland schläft, die anderen ziehen vorbei
Am Mittwoch ist die deutsche U21 nicht nur aus dem EM-Turnier in Georgien und Rumänien ausgeschieden - sie ist hochkant rausgeworfen worden von den allesamt stärkeren Nationen.
Deutschland war der Titelverteidiger bei diesem Turnier, er hat es mit einem Punkt und zwei Toren aus drei Spielen auf dem letzten Tabellenplatz beendet. Und wer das Spiel gegen die zweite Garnitur der Engländer gesehen hat, der musste glauben: Da liegen gleich zwei Leistungsklassen dazwischen. So chancenlos und überfordert war der deutsche Nachwuchs gegen jenen der Three Lions.
Was insofern nicht einer gewissen Ironie entbehrt, als die Engländer vor zehn, 15 Jahren neidvoll nach Deutschland geblickt haben, um zu erfahren, wie die Deutschen das so machen mit ihrem Nachwuchs. Um herauszufinden, wo die Neuers und Hummels und Boatengs und Özils und Khediras und Müllers denn plötzlich alle herkamen, die ihnen bei der WM 2010 in Südafrika den Hintern versohlt hatten.
Der englische Fußball war in seiner krassesten Ausprägung mit der Premier League zwar das Maß aller Dinge, nur bestimmten dort fast ausschließlich ausländische Spieler und Trainer den Takt. Englische Talente durfte man in der Premier League mit der Lupe suchen, während in Deutschland die Jahre zuvor angestoßenen Reformen endlich auch nachweisbar gute Resultate lieferten.
Dieses Bild hat sich mittlerweile ins exakte Gegenteil gewandelt. Und das gilt aus deutscher Sicht nicht nur für den Vergleich mit England. Auch Spanien, Italien, Kroatien, Belgien und die Niederlande sind längst vorbeigezogen, von Frankreich ganz zu schweigen. Und wenn man sich die Spiele der U21-EM so anschaut, ist auch zu Norwegen, der Schweiz, der Ukraine oder Georgien nur noch wenig Unterschied zu erkennen.
Nur zwei, drei Toptalente reichen nicht
Englands Auswahl war bereits vor dem Spiel als Gruppensieger für das Viertelfinale qualifiziert und gab gleich acht Ergänzungsspielern im bedeutungslosen Spiel gegen Deutschland eine Chance. Und trotzdem war jeder einzelne englische Akteur auf dem Platz seinem deutschen Widersacher individuell zum Teil turmhoch überlegen.
Nun darf man zurecht ins Feld führen, dass die deutsche Mannschaft mit erheblichen Personalproblemen zu kämpfen hatte. Sieben, acht potenzielle Stammspieler mussten verletzt absagen, Toptalente wie
England dürfte mindestens doppelt so viele Spieler dieser Qualität haben, bei den wie am Fließband produzierenden Franzosen sind es pro Jahrgangsstufe sechs oder sieben Einzelspieler, die sich im Bereich der internationalen Spitzenklasse bewegen oder dort bald ankommen werden. Oder anders formuliert: In der absoluten Spitze kann Deutschland punktuell noch mithalten. Von einer flächendeckend starken Talentförderung ist der DFB derzeit aber meilenweit entfernt.
Wie im Sommer 2000 – nur noch schlimmer
Der Zustand des deutschen Fußballs erinnert aktuell frappierend an den des Sommers 2000. Damals öffnete das brutale Ausscheiden der A-Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft auch dem letzten Träumer die Augen, wurde innerhalb des Verbands endlich gehandelt und die Förderstrukturen nach und nach angepasst. Mit letztlich durchschlagendem Erfolg.
Aber wie das oft so ist: In Zeiten der großen Triumphe begeht man die entscheidenden Fehler. In Deutschland war das in den Jahren zwischen 2010 und 2016 der Fall, als der WM-Titel von Rio alle Sinne vernebelte und lieber auf die überragenden Sympathiewerte "der Mannschaft" verwiesen wurde, statt neue Konzepte zu entwickeln oder wenigstens die alten etwas anzupassen.
Der eine große Unterschied zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2023 ist aber, dass nun selbst fußballerische Kleinstnationen ein wahnsinnig hohes Tempo und eine imposante Qualität in ihrer Nachwuchsausbildung an den Tag legen; sie können viel schneller und flexibler agieren als der schwerfällige Tanker DFB.
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Und, das ist tatsächlich das noch größere Problem: Der DFB hat derzeit überhaupt keinen finanziellen Spielraum, um wie früher strukturelle oder konzeptionelle Defizite einfach mit immer noch mehr Geld zuzuschütten. Der DFB ist fast pleite.
Angekommen im Mittelmaß
Die respektablen Erfolge besonders der U21, zuletzt unter Stefan Kuntz 2017 und 2021 Sieger bei Europameisterschaften, wurden nicht errungen wegen der überragenden Qualität der Einzelspieler.
Sondern weil Kuntz es geschafft hat, Leidenschaft, Teamgeist und Widerstandsfähigkeit für den vergleichsweise kurzen Zeitraum von ein paar Wochen zu entfachen. Gepaart mit dem nötigen Spielglück reichte das dann für zwei Titel. Dass die deutschen Mannschaften aber schon damals im Gros nicht die besten Spieler stellten, wurde geflissentlich übersehen.
Gerade Völler soll es richten
Letztlich bezahlt die A-Nationalmannschaft für diesen Mangel an Expertise auf allen Ebenen darunter. Und ein Ende der Malaise ist so schnell nicht in Sicht: 2004 dankte
Von konzeptioneller Arbeit im Nachwuchsbereich war nie die Rede. Das müssten dann schon andere erledigen. Nur verlassen die reihenweise das sinkende Schiff: Den längst eingesetzten Exodus verlängerte im Mai der Cheftrainer der U-Mannschaften beim DFB, Meikel Schönweitz. Der wechselte entnervt von den Ränkespielen im Verband zum FSV Mainz 05. Am Mittwoch gab Guido Streichsbier seinen Posten als U-19-Nationaltrainer auf und heuerte stattdessen als Co-Trainer bei Borussia Mönchengladbach an.
Schon länger wird die Frage diskutiert, ob der deutsche Fußball womöglich bald in der Mittelmäßigkeit versinken könnte. Die Antwort lautet: Dort ist er längst angekommen.
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