Die Gewalt auf den Fußballplätzen nimmt zu, auch im Jugendbereich. Der Landkreis Celle in Niedersachsen hat nun mit einer harten Maßnahme auf eine Gewalteskalation reagiert. Wir haben mit dem Vorsitzenden Jens-Holger Linnewedel über die Problematik gesprochen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Oft reicht inzwischen eine Kleinigkeit für eine Eskalation. Was im Landkreis Celle in Niedersachsen am Ende dazu geführt hat, dass es im September gleich bei vier Jugendspielen zu Handgreiflichkeiten, Schlägereien und einem Spielabbruch kam, war den Verantwortlichen fast schon egal. Sie zogen Anfang Oktober die Notbremse und setzten den Jugendspielbetrieb der U10 bis U19 drei Wochen lang aus. Eine extreme Reaktion auf extreme Vorkommnisse mit Verletzten und Polizeiermittlungen.

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"Die Beteiligten sollten alle einmal gemeinsam Luft holen und in sich gehen", erklärte Jens-Holger Linnewedel, der Vorsitzende des niedersächsischen Fußballverbands Kreis Celle, im Gespräch mit unserer Redaktion die Zwangspause, durch die 33 Spiele abgesagt und verlegt wurden. "Ich will nicht sagen, dass wir mit unseren Maßnahmen jetzt Friede, Freude, Eierkuchen erreicht haben. Das wird so nicht sein. Es wird immer wieder zu strittigen Situationen kommen."

Gewalt im Jugendfußball: Direkt wieder ein Vorfall

Das erste Wochenende nach der Pause verlief überwiegend ruhig, berichtet Linnewedel, auch wenn bei einem Jugendspiel ein Zuschauer den Schiedsrichter geschubst hat. Was dazu führte, dass der Landkreis jetzt ankündigte, dass bei einem weiteren Gewaltvorfall die Spiele der beteiligten Mannschaften bis zum Urteil des Kreissportgerichts abgesetzt und erst danach wieder terminiert werden. Was zeigt: Ein Landkreis wehrt sich nach Kräften gegen die Gewalt im Jugendfußball.

Streng genommen sind dies zwar alles Einzelfälle, der Großteil der Spiele im Jugendbereich im Kreis Celle verläuft friedlich. 50 Vereine gibt es dort, 35 davon sind im Jugendfußball aktiv. Womit in der Regel bis zu 80 Spiele an einem Wochenende ausgetragen werden. Betroffen waren vor der Pause vier Partien von der U10 bis zur U19, also waren immerhin acht Vereine involviert.

Doch klar ist: Jeder Einzelfall ist einer zu viel. Dass der Kreis mit dem Spielverbot bundesweit für Schlagzeilen sorgen würde, war bewusst mit einkalkuliert. Um aufzurütteln. Denn das Problem der Gewalt hat der Kreis Celle nicht exklusiv, diese Entwicklung zieht sich seit Jahren bundesweit durch die Vereine und verteilt sich auf viele Sportplätze. Leider eben auch immer öfter im Jugendbereich.

Eine bedenkliche Entwicklung

"Die Entwicklung ist bedenklich", sagt Linnewedel, der seit über 50 Jahren als Trainer und Funktionär im Geschäft ist und Parallelen zur Gesellschaft sieht. "Alle werden egoistischer, alle fühlen sich im Recht und alle fühlen sich ungerecht behandelt. Und das egoistische Verhalten rückt immer mehr in den Vordergrund", sagte er. Sein Empfinden: Nach Corona hat sich das Problem nochmals verschärft, was auch an der gestiegenen Anzahl der Sportgerichtsverfahren zu erkennen sei.

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Von wem die Probleme dabei konkret ausgehen, hängt auch von der Altersklasse ab. Bei den jüngeren Jahrgängen sind es vornehmlich die Eltern und die Betreuer, die für Ärger sorgen. Bei älteren Jahrgängen mischen irgendwann die Spieler selbst mit, aber auch Zuschauer. Wie bei dem Spiel, das das Fass letztendlich zum Überlaufen brachte. Beim Kreisligaspiel zwischen der JSG Lachtetal und der JSG Westkreis gingen Spieler aufeinander los, auch mehrere jugendliche Zuschauer waren beteiligt. Beim Stand von 2:11 in der 88. Minute wohlgemerkt. Es gab mehrere Verletzte.

"Bei manchen Situationen fragt man sich wirklich: 'Habt ihr noch alle Latten am Zaun, was ist los bei euch?'", sagt Linnewedel, der ein Problem im Umgang der Verantwortlichen mit diesen Situationen sieht und vor allem die Vereine in die Pflicht nimmt. "Die Trainer und Betreuer müssen sich vernünftig verhalten. In erster Linie auf die Eltern und auf die Spieler einwirken. Und die Verantwortlichen in den Vereinen auf ihre Funktionsträger innerhalb der Mannschaften", sagt der Vorsitzende.

Dabei hilft der Landkreis tatkräftig mit. Man setzt sich mit den Vereinen zusammen, spricht über die Problematik, stellt sich den Diskussionen. "Wir schicken Konfliktmanager zu den Vereinen. Bei Trainerlehrgängen wird das Problem angesprochen, es wird entsprechend geschult. Aber wir werden es nicht ganz ausschalten können, mit Sicherheit nicht", sagt Linnewedel.

Fehlende Einsicht und lasche Strafen

Denn weitere Bremsklötze sind die oft fehlende Einsicht und die zu lasche Bestrafung. Die Betroffenen fühlen sich fast durchweg ungerecht behandelt, auch die Aggressoren. "Schuld haben immer die anderen. Nach dem Motto: 'Das war ungerecht und wenn ich Recht habe, muss ich das auch durchsetzen.' Dieses egoistische Verhalten in vielen Bereichen ist wirklich sehr, sehr schwierig", betont Linnewedel. Bezeichnend ist auch, dass zwei Drittel der Vereine mit der Zwangspause einverstanden waren, ein Drittel allerdings nicht.

Die drohenden Strafen sorgen offensichtlich auch nicht dafür, dass ein Umdenken stattfindet. Im Fall des U19-Spiels rechnet der Funktionär mit einer Sperre der Spieler und dazu mit einer Geldstrafe für die Vereine in Höhe von bis zu 200 Euro. "Das merken die Vereine oder die Betroffenen nicht. Da muss man das Strafmaß entsprechend hochsetzen, um diese Vereine zu treffen", sagt Linnewedel, dem in der Hinsicht aber die Hände gebunden sind, weshalb er fordert: "Man muss die Daumenschrauben anziehen. Das muss richtig wehtun."

Denn er berichtet davon, dass die Ehrenamtlichen, ohne die in den Amateur- und Jugendbereichen nichts laufen würde, "durch solche Vorfälle unheimlich belastet" würden. "Das Ehrenamt leidet stark darunter", warnt er.

Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) setzt beim Thema Gewalt vor allem auf Deeskalation. Wie zum Beispiel durch die bei der EM erfolgreich erprobte Kapitänsregel, aber auch das sogenannte Stopp-Konzept. Schiedsrichter können bei Gewalt- oder Diskriminierungsvorfällen Beruhigungspausen anzeigen, um die Gemüter wieder zu beruhigen.

Stopp-Konzept wird eingesetzt

"Es zeigt sich ganz klar, dass es diesen Bedarf gibt und die Schiris davon Gebrauch machen. Und was auch erstaunlich ist: In den allermeisten Fällen reicht der erste Stopp, um die Situation zu beruhigen", sagt die Kriminologin Thaya Vester bei "ZDF heute". Sie arbeitet mit dem DFB seit Jahren zusammen und begleitet auch die Auswirkungen des neuen Konzepts.

Wie es im Landkreis Celle nun weitergeht, muss sich zeigen. Aktuell mag es aufgrund der Aufmerksamkeit ruhig sein. Das kann sich aber schnell wieder ändern. In der letzten Novemberwoche gehen die Jugendteams in die Halle. "Da sind die Mannschaften noch enger zusammen, die Eltern sind da, die Betreuer. Wir beobachten das", sagt Linnewedel. Denn oft reicht inzwischen eine Kleinigkeit für eine Eskalation.

Über den Gesprächspartner

  • Jens-Holger Linnewedel ist der Vorsitzende des niedersächsischen Fußballverbands Kreis Celle. Er ist seit über 50 Jahren als Trainer und Funktionär im Einsatz.

Verwendete Quellen

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