In Deutschlands Stadien kam es zuletzt vermehrt zu heftigen Zusammenstößen zwischen der Polizei und Fans. Das traditionell angespannte Verhältnis zwischen Anhängern und Beamten ist aktuell extrem belastet. Fanforscher Harald Lange erläutert im Gespräch mit unserer Redaktion, was hinter der neuen Dynamik steckt und wie man beide Parteien wieder zusammenbringen könnte.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Andreas Reiners sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Lage ist unversöhnlich, verfahren und kompliziert. Denn wer den ersten Schritt macht, der verliert. Das Gesicht, aber auch den Machtkampf. So scheinen es Polizei und Fußball-Fans zu sehen, denn beide Lager befinden sich in einer Sackgasse und bewegen sich keinen Millimeter aufeinander zu.

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Dabei geht es um heftige Gewaltausbrüche in den Stadien, um Fehler, um Verletzte, um die Aufarbeitung und auch die Schuldfrage: Wer ist in der ganzen Sache der Böse? "Wenn man sich die Komplexität im Ursachengefüge beim Aufkommen von Gewalt im Fußballstadion anschaut, dann ist es nicht so einfach, dass wir einen Bösen als solchen ausfindig machen können", sagt Fanforscher Harald Lange im Gespräch mit unserer Redaktion.

Jüngste Ausschreitungen im November zwischen Polizei und Anhängern wie beim Zweitliga-Topspiel zwischen dem FC St. Pauli und Hannover 96 oder bei der Bundesliga-Partie zwischen Eintracht Frankfurt und dem VfB Stuttgart hatten eine neue Qualität, was Ausmaß, Intensität und Unerbittlichkeit anging.

Teilweise prügelten die Beteiligten aufeinander ein, als wolle man ein besonders gewaltbetontes Zeichen setzen. Warum es zu so massiven Ausschreitungen mit in Frankfurt jeweils über 100 Verletzten auf beiden Seiten kam, ist eine der offenen Fragen. Die Hintergründe der Eskalationen arbeiten die Parteien aktuell auf.

Polizei-Training für die EM 2024?

"Es könnte eine Strategie dahinterstehen. Laut einem Gerücht soll die Polizei im Hinblick auf die anstehende EM Einsatztaktiken trainieren. Was definitiv auffällt ist, dass die Polizeieinsätze und auch die Polizeipräsenz im letzten halben Jahr massiv zugenommen haben", sagt Lange.

Ebenfalls auffällig: Oft wird aus einem normalen Bundesliga- kurzfristig ein Hochrisikospiel, was dann selbst die Klubs überrascht. Durch die Hochstufung kann die Polizei mehr Personal anfordern, auch aus benachbarten Bundesländern. "Und das sind alles Indizien, die darauf hindeuten, dass das Thema Fußballfans entdeckt wird für die Polizei, um sichtbarer zu werden", so Lange.

Und parallel zur vermehrten Polizeipräsenz gibt es die jüngsten Zwischenfälle. Für Lange ist das ein Stück weit erwartbar, auch aufgrund der gesammelten Erfahrungen aus der Vergangenheit und der generell ablehnenden Einstellung der Fans gegenüber der Polizei. Hinzu kommt die Beobachtung einer generell schnelleren Gewalt-Eskalation in Bereichen der Gesellschaft.

Hundertschaften im Block vermitteln 2023 kein Gefühl der Sicherheit mehr, sondern provozieren Ultras zusätzlich und versetzen neutrale Zuschauer in Sorge. Denn wenn es dann knallt, werden sie oft mit hineingezogen. "Deshalb wäre es ratsam, die Präsenz und die Sichtbarkeit zu reduzieren und deutlich defensivere Klänge in der Einsatzstrategie einzuschlagen, denn da scheint es tatsächlich einen Zusammenhang zu geben", so Lange.

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Hardliner bekommen Rückenwind

Das Gegenteil einer defensiven Strategie ist aber der Fall. "Nach jedem Zwischenfall kriegen die Hardliner in Polizeikreisen noch mehr Rückenwind und versuchen, die öffentliche Meinung auf ihre Seite zu ziehen", so Lange. Dabei ist "die fehlende Selbstkritik aufseiten der Polizei Gegenstand meiner Kritik an dieser Strategie".

Denn während die Polizei moniert, das Stadion sei kein rechtsfreier Raum, "will man offenbar mit Schlagstock und Tränengas einen rechtskonformen Raum herstellen. Das ist mit Blick auf die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte ziemlich weltfremd", betont Lange: "Das ist eine absolut unsägliche Gemengelage, mit der wir es im Moment zu tun haben."

Auch die am Freitag zu Ende gegangene Innenministerkonferenz (IMK) sorgte nicht dafür, dass sich eine Entspannung der Lage andeutet. Im Gegenteil. Während der Dachverband der Fanhilfen Forderungen wie ein Verbot des Einsatzes von Pfefferspray in Stadien, eine konsequente Verfolgung von Polizeigewalt und eine flächendeckende Einführung einer Kennzeichnungspflicht für alle Polizeieinheiten stellt, kritisierte er gleichzeitig die IMK für die Forderung nach effektiverer Bekämpfung von Gewalt in Fußball-Stadien.

Die Organisation bezeichnete den Aufruf der Sportminister nach den Krawallen und Gewaltexzessen vergangenen Wochen als "sehr eindimensionale Sichtweise" und warf den Politikern Voreingenommenheit bei der Bewertung der Situation vor.

Fanhilfe fordert "ganz gezielte Maßnahmen zur Deeskalation"

Vorstandsmitglied Linda Röttig vermisst in der IMK-Erklärung "eine kritische Aufarbeitung der Polizeieinsätze gegen Fußballfans". Die IMK habe sich von "Populismus und den schrillen Tönen der Polizeigewerkschaften leiten lassen". Die Forderung: "Ganz gezielte Maßnahmen zur Deeskalation".

Dafür wäre auch eine Selbstreflexion bei der Polizei vonnöten, was für Lange ein "ganz neuralgischer Punkt" ist. Denn er glaubt, dass die Polizei so vorgehe, weil man es sich gegenüber Fans erlauben könne, "denn die haben keine Lobby, sondern ein negatives Image, was natürlich auch seine Berechtigung hat". Denn Ausschreitungen untereinander, wie zuletzt beim Spiel Rostock gegen Schalke, sind wiederum ein essenzielles Problem für sich. Soll heißen: Fans tragen zu einem nicht unerheblichen Teil dazu bei, dass sich die Situation so verschärft hat. Und Straftäter dürfen natürlich keinen Freibrief erhalten, nur weil sie in einem Stadion sind.

Lange betont allerdings, dass es eine Entwicklung in den letzten Jahren gebe, die gezeigt habe, dass es in Sachen Fangewalt eine rückläufige Entwicklung gebe. Dazu verweist der Experte auf eine wissenschaftliche Studie aus diesem Jahr, die die Hintergründe von Polizeigewalt in Deutschland untersucht hat. Unter anderem ein Ergebnis: Fußballfans sind neben den Teilnehmern von Demonstrationen die Gruppe, die am häufigsten von übergriffiger Polizeigewalt betroffen ist. Fananwälte und Anhänger selbst bestätigten in der Vergangenheit Übergriffe und Provokationen. Ein Teufelskreis.

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Was kann getan werden?

Was kann denn helfen, die verfahrene Situation aufzulösen? Zum einen müssten die jüngsten Fälle kritisch aufgearbeitet werden, fordert Lange. Also neutral und differenziert. Und dann sei die Politik gefragt. "Aber nicht, indem pauschal umgesetzt wird, was die Polizei will", so Lange. Auch die Vereine, die DFL und der DFB könnten stärker moderierend eingreifen.

Und natürlich sind die Fans in der Pflicht. Sie müssten das Feindbild Polizei erst einmal ruhen lassen. Und positive Beispiele der Zusammenarbeit zwischen Fans und Polizei sollten in den Vordergrund gestellt werden. "Wo man sich vorher trifft, man miteinander spricht, man aufeinander zugeht, Angebote macht, um ein gewaltfreies, sicheres Stadion zu erleben", so Lange. Parallel sollten Anhänger darauf achten, keinen Anlass für Konflikte und Auseinandersetzungen und einen Aufmarsch der Polizei zu bieten. Denn Grenzen werden ohne Frage zu oft überschritten, Einsätze provoziert.

Die sind dann aber mit plumper Gegengewalt "so einfach gestrickt, dass sie letztlich ins Leere laufen und nichts bewirken, außer noch mehr Unruhe reinzubringen, noch mehr Krawalle, noch mehr Gegeneinander. Und vor allem das zerstören, was wir für das Herstellen von Sicherheit brauchen: Dass Fans und Polizei, Fans und Ordner, Fans und Vereine zusammenarbeiten", so Lange. Nur über einen Schulterschluss bekomme man Sicherheit in das sensible Gefüge Fußballstadion, so der Experte.

Und wer macht den ersten Schritt? Für Lange ganz klar "die Polizei. Sie ist die staatliche Einrichtung, von ihr würde ich es erwarten, denn bei ihr muss die Besonnenheit sein." Damit die Lage nicht länger unversöhnlich bleibt.

Über den Gesprächspartner:

  • Prof. Dr. Harald Lange ist seit 2009 Professor für Sportwissenschaft an der Universität Würzburg, Gründer des Instituts für Fankultur e.V. und Dozent an der Trainerakademie des DOSB in Köln. Zuvor war er unter anderem Professor für Sportpädagogik an einer Pädagogischen Hochschule (2002-2009) und Gastprofessor an der Universität Wien (2008-2009).

Verwendete Quellen:

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