Spaniens EM-Triumph schürt bei der Konkurrenz schon Befürchtungen von einer neuen Dynastie und Dominanz. Tatsächlich gibt es einige Parallelen – aber auch noch das eine oder andere Fragezeichen.
Xavi Hernandez und Andres Iniesta waren am Sonntag im Berliner Olympiastadion und ließen die Welt von ihrem Besuch des EM-Finales wissen: Von beiden kursierte irgendwann am Abend ein gemeinsames Selfie in den sozialen Medien. Das Triebwerk der goldenen spanischen Generation verfolgte seine möglichen Nachfolger.
Und spätestens mit dem Triumph im Endspiel gegen England und dem vierten Titel der Furja Roja in diesem Wettbewerb dürfte klar sein: Diese spanische Mannschaft ist auf einem sehr guten Weg, in die Fußstapfen ihrer übergroßen Vorgänger zu treten.
Mit den Quervergleichen ist das ja immer so eine Sache, in den seltensten Fällen sind diese wirklich zulässig. Dass die Spanier nun aber nach der Nations League auch die Europameisterschaft gewonnen haben und das mit einer der jüngsten Mannschaften des Turniers, ist keine besonders gute Nachricht für die Konkurrenz.
Die goldene Generation
2008 erlöste eine Mannschaft von Trainer Luis Aragones die spanische Nation von ihrer jahrzehntelangen Pein, über 44 Jahre mussten die Spanier damals auf ihren zweiten EM-Titel warten. Was sich wie das Ende der Durststrecke anfühlte, war in Wirklichkeit erst der Anfang einer nie gekannten Dominanz des internationalen Fußballs.
Auf den EM-Titel 2008 folgte der WM-Triumph zwei Jahre später in Südafrika und dann 2012 die Titelverteidigung bei der Europameisterschaft in Polen und der Ukraine – inklusive eines fulminanten 4:0-Erfolgs im Finale gegen Italien.
Spanien war nicht nur nahezu unschlagbar bei großen Turnieren, es prägte mit seiner Art des Fußballs auch eine Epoche. Das Ballbesitz- und Positionsspiel war unerreicht, zusammen mit der Dominanz des FC Barcelona auf Klubebene wurde der spanische Ansatz zum Rollenmodell für andere Nationen - unter anderem auch der deutschen Mannschaft - und Pep Guardiola zur Trainer-Ikone.
Zielstrebiger, direkter und gnadenloser
Davon sind Luis de la Fuente und seine Mannschaft noch ein ganzes Stück entfernt und der FC Barcelona wurde national wie international längst von Real Madrid ersetzt – einer Mannschaft mit einem weitaus pragmatischeren Ansatz. Weniger stilbildend, dafür aber umso erfolgreicher und in den vielen engen Spielen immer mit dem Tick mehr Willen, Entschlossenheit und auch Glück gesegnet als der Gegner.
Was wiederum auf die Idee der Nationalmannschaft abfärbte. Die Enttäuschungen der letzten Jahre bei großen Turnieren hat Spanien seinen grundsätzlichen Ansatz überdenken lassen und mit de la Fuente als ehemaligen Jugendtrainer die perfekte Wahl auf der wichtigsten Position getroffen.
Wie damals bleibt auch heute der mutige Offensivansatz erhalten, allerdings in einer anderen Ausprägung: zielstrebiger, direkter und damit letztlich auch gnadenloser. Verzettelte sich Spanien bis inklusive der WM 2022 in Katar noch in zu viel Schönspielerei, hat de la Fuente mit ein paar entscheidenden Kniffen einen neuen Weg kreiert: mit einem klaren Mittelstürmer und zwei echten Flügelspielern in einer Mischung aus 4-3-3 und 4-2-3-1.
Mit Flanken, Weitschüssen, Standardtoren, Einzelaktionen – Elementen also, die früher allenfalls vereinzelt oder in absoluten Ausnahmesituationen zur Anwendung kamen.
Die wenigen Schwächen gut kaschiert
Anders als bei der goldenen Generation der Jahre zwischen 2008 und 2012 besteht der Kern der Mannschaft nicht mehr fast ausschließlich aus Spielern von Real Madrid und dem FC Barcelona. Die Keimzellen der "neuen" Europameister sind in Barcelona, in der Talenrschmiede La Masia zu suchen. Aber eben auch im Baskenland, in Bilbao oder San Sebastian.
Mit ihren Ausbildungsideen, die so gar nicht mehr zum modernen und globalen Fußball zu passen scheinen – für den spanischen Fußball und die Nationalmannschaft aber den permanenten Nachschub an herausragenden Talenten gewährleisten.
Damit konnten die Spanier nun auf Verbandsebene zwar immer noch nicht nachziehen mit Frankreich oder England, die die Breite in der Spitze an Toptalenten weiterhin anführen. Die Kombination aus herausragenden Talenten auf bestimmten Positionen, einer überlegenen Spielidee und einem frischen Kollektivgedanken aber war für keinen der Kontrahenten zu knacken.
Spanien besiegte nacheinander unter anderem Kroatien, Italien, Deutschland, Frankreich und England und wusste dabei seine Schwachstellen zu kaschieren: in der Abwehrkette und im Tor. Dieser Unterschied beim Personal im Vergleich zur goldenen Generation um Xavi und Iniesta war schon sichtbar, Unai Simon ist eben so wenig ein Torhüter von Weltklasseformat wie die beiden Innenverteidiger. Anders als ihre Vorgänger Iker Casillas, Sergio Ramos und Carles Puyol.
Allein: Auffällig wurden diese kleineren Schwachstellen kaum einmal im Turnierverlauf. Stattdessen erzielte Spanien so viele Tore wie keine Mannschaft zuvor (15) in einem EM-Turnier und kassierte lediglich deren vier.
Unheimliche spanische Finalserie
Natürlich wird es bis zum nächsten großen Turnier in zwei Jahren bei der WM in Kanada, den USA und Mexiko ein paar Veränderungen geben. Einige Spieler wie Jesus Navas (38), Nacho (34), vielleicht auch Joselu (34) oder Alvaro Morata (31) werden oder könnten ihren Abschied bekanntgeben.
Die Riege an Nachfolgern steht aber längst bereit, die verletzten Pedri (21), Balde (20), Gavi (19) oder auch Pau Cubarsi (17) sind längst auf dem Sprung oder schon Teil des Teams. Schon bei dieser EM waren es auch die Youngster Nico Williams und Lamine Yamal, die einen entscheidenden Anteil am Triumph hatten.
Und die nun auch wissen, wie man ein Endspiel gewinnt und den Nimbus der Unbesiegbarkeit behält: Seit 2001, seit der Niederlage des FC Valencia gegen den FC Bayern in der Champions League, haben spanische Klub- und Verbandsmannschaften kein einziges Finale mehr verloren.
"Wir haben eine tolle Gegenwart - und auch eine tolle Zukunft", sagte Trainer de la Fuente, der seinen Vertrag schon bis 2026 verlängert hatte, nach dem Triumph von Berlin. Für die spanischen Fans ist das ein Versprechen. Für die Konkurrenz aber hörte es sich an wie eine Drohung.
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