Jeder Kinofan weiß: Zweite Teile von guten Filmen reichen fast nie an das Original heran. Die EM versucht trotzdem, nochmal an das gefeierte Sommermärchen von 2006 anzuschließen. Für das Turnier und insbesondere das Team von Trainer Julian Nagelsmann ist jedes Genre möglich - wir begleiten die Dreharbeiten.
Aufgeregte Gespräche in der hinteren Reihe, das Rascheln von Popcorn-Tüten und auf der Kinoleinwand läuft nochmal der 20 Jahre alte Werbespot vom lokalen Autohaus: Wenn die Europameisterschaft ein Kinofilm wäre, dann wären wir jetzt ungefähr an dieser Stelle. Die Frage ist nur, ob der Film auch gut ist. Klar, der erste Teil aus dem Jahr 2006 war ein gefeierter Blockbuster, der längst zu den Klassikern des Genres zählt. Aber die EM 2024 ist eben doch nur die Fortsetzung des Sommermärchens, und jeder Filmkenner weiß: Der zweite Teil ist nie so gut wie das Original (und - auch hier stimmt die Analogie - ist vor allem dazu da, die Kassen des Filmstudios zu füllen). Jetzt also beginnt das "Sommermärchen 2.0", eine Gemeinschaftsproduktion der United European Film Academy (Uefa) und dem Deutschen Filmstudio Babelsberg (DFB). Kann das gutgehen?
Der Hauptcharakter
Ganz klar steht und fällt ein guter Film zunächst einmal mit dem Hauptprotagonisten. Die deutsche Nationalmannschaft hat hier das Zeug zum klassischen Helden in einem Coming-of-Age-Streifen. Im Rekordtempo hat der DFB sein Bild vom unsympathisch steif wirkenden Altherrenverband in den letzten Monaten zumindest halbwegs umgekrempelt. Das Rezept war gar nicht so schwierig: Eine neue Torhymne, ein neuer Ausrüster und ein pinkes, flippiges Trikot, in denen zwar manche die endgültige Wehen-Wiesbadenisierung des DFB-Teams, die meisten aber einen neuen jüngeren Stil der deutschen Nationalmannschaft erkannten.
Wenn in den ersten Spielen nichts ganz Dummes passiert, können wir uns bei der EM womöglich also auf die Wiederauferstehung eines Teams freuen. Ein Team, das bei Turnieren zuletzt erfolglos in der Vorrunde gescheitert war, an die auch kurz vor Turnierstart noch niemand so richtig glaubt und die ein junger, motivierter Trainer aus Süddeutschland zu Höchstleistungen anspornt. Das hat es so bei einem Heimturnier noch nie gegeben. Unsere Hoffnungen liegen jetzt jedenfalls auf Jürgen Kli...
Die Antagonisten
Auch einen ebenbürtigen Gegner braucht es für einen echten Blockbuster - am besten einen, der sich noch ein letztes Stück Restsympathie bewahrt hat, aber den Hauptprotagonisten auf seiner Heldenreise ernsthaft auf die Probe stellt. Konkurrierende Teams auf dem Weg zum EM-Titel gibt es bei der EM auf jeden Fall genug - Experten schätzen die Zahl neben dem DFB-Team auf etwa 23 Mannschaften. Zu viele, sagen die Kritiker: Denn nur acht Mannschaften fallen nach der Gruppenphase aus dem Turnier, auch die vier besten Gruppendritten (die dafür gar nicht unbedingt Spiele gewinnen müssen), kommen weiter. Und: Vorteile haben vor allem die Teams, die am letzten Spieltag erst später spielen, da sie genau wissen, wie viele Punkte sie für den Achtelfinaleinzug noch erreichen müssen. Das wirkt dann doch etwas gescriptet.
Gerade die ersten Minuten von "Sommermärchen 2.0." könnten deshalb langweilig werden. Im EM-Drehbuch steht es quasi festgeschrieben, dass sich mindestens eines der Teams in der Vorrunde mit drei Unentschieden in Richtung Achtelfinale mauern wird. Vielleicht die Portugiesen, die das schon 2016 und 2021 erfolgreich ausprobiert haben und sich auch dieses Jahr wieder freuen, in der leicht bevorteilten Gruppe F gelandet zu sein. Und wenn Cristiano Ronaldo am 26. Juni nach einem auch in dieser Höhe verdienten 0:0 gegen Georgien gewohnt breitbeinig den Achtelfinaleinzug feiert, dann ist der wahre Antagonist dieses Turniers vielleicht schon gefunden.
Der Comic Relief
"Es gibt Leute, die denken, Fußball sei eine Frage von Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich kann Ihnen versichern, dass es noch sehr viel ernster ist", wusste schon Bill Shankly, der Jürgen Klopp der 1960er Jahre. Bei all der Ernsthaftigkeit braucht es deshalb einen "Comic Relief" - einen Charakter, der spannende Szenen mit Humor entlasten kann. Ob freiwillig oder unfreiwillig ist hierbei übrigens egal. Und hier gab es in der Vergangenheit viel Auswahl:
Der Plot Twist
Schon vor der EM gab es erste Überraschungen, die keiner für möglich gehalten hätte. So haben es etwa mehrere BVB-Spieler noch kurz vor knapp in die EM-Kader geschafft, weil ihre Teamkollegen ausfielen. Bei Deutschland war es Emre Can, der den erkrankten Aleksandar Pavlovic ersetzen durfte und jetzt wie aus dem Nichts im EM-Kader steht. Ian Maatsen wurde vom niederländischen Trainer Ronald Koeman sogar aus dem Urlaub im griechischen Mykonos eingeflogen, um die verletzten Frenkie de Jong und Teun Koopmeiners zu ersetzen. Der scheidende BVB-Trainer hat seine Spieler also nicht nur im Champions-League-Finale, sondern auch noch bei der EM untergebracht. Ein besseres Erbe kann man nicht hinterlassen. Wie viele Spieler jetzt ausfallen müssen, dass auch Mats Hummels noch in einem EM-Kader landet, ist nicht bekannt.
Der Cliffhanger
Nach dem zweiten Teil ist vor der Trilogie, weiß man in der Filmbranche schon längst. Auch ein guter Film kommt deshalb nicht mehr ohne einen guten Cliffhanger am Ende aus, der ein paar wichtige Fragen offen lässt und auf eine weitere millionenschwere Fortsetzung hindeutet. Und bei dieser EM gibt es wie bei jedem Turnier tausende Fragen, die noch beantwortet werden müssten: Können die Fans die Euphorie aus 2006 nochmal wiederholen? Hat England nach diesem Sommer endlich keine Schmerzen mehr? Und wie sieht Thomas Müller mit Glatze aus? Spätestens am 14. Juli werden wir es sehen.
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