Das Aus bei der Europameisterschaft trifft Österreich schwer. Gründe für das Desaster gibt es genug, unter anderem blieben zu viele Leistungsträger weit unter Normalform. Trainer Marcel Koller will den eingeschlagenen Weg trotzdem weitergehen. Und das ist auch gut so.

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Das Wichtigste vorneweg: Marcel Koller wird sein Traineramt beim österreichischen Fußballverband nicht aufgeben. Zumindest nicht freiwillig.

Der Schweizer hat in den fünf Jahren seiner Ägide so ziemlich alles mitgemacht. Er war die wenig geliebte Lösung nach dem Constantini-Desaster, weil er als Schweizer so gar nicht ins übliche Beuteschema der ÖFB-Granden passte. Dann hat er aus einer Truppe talentierter Einzelspieler eine Einheit geformt und sie in völlig neue Höhen gecoacht, mit dem Highlight der EM-Qualifikation in den vergangenen beiden Jahren.

Und nun soll Koller plötzlich der gefallene Engel sein. Das krachende Aus bei der Europameisterschaft wird zu großen Teilen auch dem bis vor wenigen Wochen Unantastbaren angehängt. Der Boulevard hat sich in Stellung gebracht, das verlorene Auftaktmatch gegen Ungarn war ein Startsignal, die Pleite gegen Island bringt Koller tatsächlich in die Bredouille.

Tiefer Fall des Geheimfavoriten

Die Zahlen lügen nicht, und sie werden Koller und seinem Team auch zu Recht zur Last gelegt. Österreich hat die absolut machbare Gruppe F als Letzter beendet, von allen 24 Mannschaften im Turnier waren nur die Ukrainer und die Russen schlechter.

Mit Furor wollte das neue Österreich bei dieser künstlich aufgeblähten EM dem Rest des Kontinents das Fürchten lehren. Herausgekommen ist eine erneute Schmach. Gründe dafür gibt es genug.

Nach der famosen Qualifikation hat sich eine Euphorie im Land breit gemacht wie seit Ewigkeiten nicht. Nicht nur die österreichischen Fans und wohl auch Teile der Mannschaft sahen da mehr als einen Außenseiter, der ausnahmsweise mal wieder im Konzert der ganz Großen mitspielen durfte. Auch ausgewiesene Fachleute hoben die Auswahl in den Stand einer möglichen Überraschungsmannschaft, einige wollten sogar einen Geheimfavoriten erkannt haben.

Die letzten Vorbereitungsspiele vor dem Turnier gegen Malta und die Niederlande gaben aber schon ein paar Hinwiese darauf, dass die Mannschaft entweder doch noch nicht so weit ist - oder aber mit dem deutlich gestiegenen Druck und der Erwartungshaltung nicht zurechtkam.

Manchmal sind es im Fußball Nuancen, die entscheiden. Hätte David Alaba im ersten Spiel gegen Ungarn nach wenigen Sekunden ins Tor statt nur an den Pfosten getroffen, wäre ganz sicher alles anders gekommen.

"Fußball ist ein Selbstvertrauen-Spiel. Wenn man Erfolg hat, holt man sich Selbstvertrauen", sagte Trainer Koller. Da ist sicherlich eine Menge dran - aber fehlendes Selbstvertrauen alleine war nicht der Grund für das frühe Aus.

Alaba war sichtlich überspielt

Österreichs Top-Spieler fanden zu keinem Zeitpunkt des Turniers zu ihrer gewohnten Form. David Alaba sollte der Anführer sein, auf ihn fokussierte sich vieles.

Dass der Superstar aber schon in den letzten Wochen der regulären Vereinssaison bei den Bayern nicht mehr an seiner Leistungsgrenze spielte, sondern stattdessen erstaunlich fahrig und überspielt wirkte, fiel erst in den Tagen in Frankreich auch dem Letzten auf.

Dazu musste Alaba in drei Spielen auf drei verschiedenen und teilweise völlig ungewohnten Positionen auflaufen. Im defensiven Mittelfeld, wenn er das Spiel vor sich hat und seine Dynamik ausleben kann, fühlte er sich noch am wohlsten. Als verkappter Regisseur wie gegen Portugal oder gar als eine Art falsche Neun wie gegen Island blieb Alaba nahezu wirkungslos.

"Was ich sagen kann, ist, dass ich alles gegeben habe und immer wieder versucht habe, mein Spiel zu spielen, alles versucht habe für mein Land und für die Mannschaft", sagte Alaba und relativierte die Kritik an seiner Person. "Ich habe versucht, mich mit dem Ganzen nicht zu sehr zu befassen. In manchen Dingen habe ich es vielleicht irgendwo ein bisschen anders gesehen, in manchen teile ich die Kritik."

Details ergeben schlechtes Gesamtbild

Mittelfeldregisseur Zlatko Junuzovic verletzte sich gleich gegen die Ungarn, verpasste das Portugal-Spiel und saß gegen Island 90 Minuten auf der Bank. Marko Arnautovic hatte mal wieder viel vor, zeigte aber erst gegen Island in Ansätzen, was er eigentlich kann.

Martin Harnik und Florian Klein knüpften nahtlos an ihre Leistungen im Verein der vergangenen Monate an: Mit dem VfB Stuttgart sind beide nicht umsonst abgestiegen. Aleksandar Dragovic leistete sich gegen Ungarn einen etwas unglücklichen Platzverweis und verschoss dann gegen Island einen Elfmeter.

Es waren viele Kleinigkeiten, die das schiefe Gesamtbild Österreichs bei der EM formten. "Es ist viel passiert: Spieler waren verletzt oder hatten ihren Rhythmus nicht", versuchte sich Koller nach der Partie gegen Island an einer schnellen Analyse. "Bei so einem Turnier ist das Level extrem hoch. Die Spiele folgen so schnell aufeinander, dass du deine Form während des Turniers eigentlich nicht finden kannst."

Koller sieht kein Scheitern

Dass er selbst Fehler gemacht habe, wollte der Schweizer nicht eingestehen. Kollers Systemumstellung im entscheidenden Spiel floppte total. In einem Spiel mit derart großer Bedeutung quasi am offenen Herzen zu operieren mit einer Grundordnung, die nie unter Wettkampfbedingungen erprobt wurde, war ein immenses Risiko.

Dass Kollers Überlegungen womöglich richtig waren gegen einen defensiv ausgerichteten Gegner: geschenkt. Was unterm Strich bleibt, ist das nackte Ergebnis. Und Koller hat für seinen Mut - Kritiker würden behaupten: für seinen Starrsinn - einen hohen Preis bezahlt.

"Persönlich denke ich nicht, dass es ein Scheitern ist", antwortete Koller auf die Frage nach seiner eigenen Zukunft. Sein Vertrag läuft bis 2017.

Schonungslose, aber ruhige Aufarbeitung

Der ÖFB muss jetzt aufpassen, nicht den Fokus auf das Wesentliche zu verlieren. Und die Nerven bewahren. Das Ausscheiden schmerzt sehr, mit dieser Mannschaft wäre unter "normalen" Umständen durchaus die eine oder andere Überraschung möglich gewesen.

Jetzt braucht es eine schonungslose Aufarbeitung der EM, um dann nach der Sommerpause einigermaßen unbelastet die Mission WM-Qualifikation angehen zu können. Mit Marcel Koller als Trainer. Alles andere wäre grob fahrlässig.

Österreich ist böse auf die Nase gefallen. Darin liegt aber auch eine Chance. Die Spieler, der Trainer, auch die Fans: Alle sollten die Erfahrungen mitnehmen und daraus lernen.

"Unser Buch ist noch nicht zu Ende geschrieben, es ist nur ein Kapitel. Sicherlich kein schönes Kapitel, aber um weiterzukommen, gehört auch ein Kapitel, das so aussieht, dazu", sagt David Alaba. "Und jetzt wollen wir das nächste Kapitel aufschlagen."

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