Manche Zuschauer wundern sich, dass die Schiedsrichter-Assistenten bei der EM beim Abseits oft erst mit einiger Verzögerung die Fahne heben. Doch dieses Abwarten hat einen Grund - und der hängt mit dem Video-Assistenten zusammen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Alex Feuerherdt und Jörg Hausmann sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Frage ist nicht neu, doch bei der laufenden EM wird sie in den sozialen Netzwerken wieder vermehrt gestellt: Warum dauert es so lange, bis der Schiedsrichter-Assistent die Fahne hebt, um eine Abseitsstellung des Angreifers zu signalisieren?

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Den Sachverhalt erläuterte unser damaliger Schiedsrichter-Kolumnist Alex Feuerherdt bereits anlässlich der EM 2021. Der Zeitpunkt, wann der Schiedsrichter-Assistent das Abseits signalisiert, hängt demnach mit dem Video-Assistenten (VAR) zusammen.

Jeder Pfiff des Schiedsrichters unterbricht sofort das Spiel

Angenommen, der Schiedsrichter-Assistent hebt die Fahne schon vor Beendigung eines letzten Endes erfolgreich abgeschlossenen Angriffs und der Schiedsrichter pfeift, bevor der Ball ins Tor geht: Dann sind für den Fall, dass sich die Abseitsentscheidung als falsch herausstellt, der Angriff und die Torchance der angreifenden Mannschaft unwiderruflich dahin. Denn jeder Pfiff unterbricht das Spiel sofort. Daran ändert auch der VAR nichts.

Wenn aber erst die Torerzielung das Spiel unterbricht, kann der Video-Assistent aktiv werden. In diesem Fall erfolgen das optische Signal des Assistenten und – das ist entscheidend – danach auch das akustische Signal des Referees erst, nachdem der Ball im Tor liegt. Dadurch, dass der Ball die Torlinie überschreitet, ist der Ball automatisch aus dem Spiel.

Wann der VAR beim Abseits eingreifen kann

Im vorliegenden Fall hat der VAR die Möglichkeit, zu überprüfen, ob die Entscheidung, das Tor wegen Abseitsstellung zu annullieren, korrekt war. Denn der Video-Assistent kontrolliert nicht nur nach einem Treffer, der vom Schiedsrichter gegeben wird, ob alles mit rechten Dingen zugegangen ist. Sondern er prüft auch, ob ein Tor zu Recht aberkannt worden ist.

Liegen Schiedsrichter und Schiedsrichter-Assistent mit ihrer Abseitsentscheidung falsch, dann erfolgt ein entsprechender Hinweis des VAR an den Unparteiischen. Der erklärt den Treffer daraufhin für gültig. Umgekehrt kann der VAR die Annullierung des Tores veranlassen, wenn das Schiedsrichterteam der Auffassung gewesen ist, dass kein Abseits vorgelegen hat.

Die Schiedsrichter-Assistenten warten das Ende des Angriffs bewusst ab

Diese Gegebenheiten führen dazu, dass die Assistenten oft bewusst warten, bis sie nach einem strafbaren Abseits die Fahne heben und den Referee damit zu einem Pfiff veranlassen. Der jeweilige Angriff soll erst zu Ende gespielt werden. Mündet er in einem Tor, kann der VAR zur Überprüfung schreiten. Führt er nicht zu einem Treffer, kommen das Fahnenzeichen und der Pfiff nach dem Abschluss des Angriffs.

Manchmal geben die Assistenten ihr Zeichen aber auch schon etwas früher: Dann nämlich, wenn in ihren Augen abzusehen ist, dass aus dem laufenden Angriff keine unmittelbare Torgefahr resultiert. Das ist beispielsweise der Fall, wenn der Angriff abgebrochen wird, die Angreifer aus der torgefährlichen Zone laufen – also etwa nach außen abgedrängt werden – oder das Angriffstempo verschleppt wird.

Fast immer geht es knapp zu

Prinzipiell gilt dabei zweierlei: Verzögern sollen die Assistenten das Heben der Fahne beim Abseits zum einen nur dann, wenn die Abseitsstellung knapp und damit die Gefahr gegeben ist, dass sie sich in ihrer Wahrnehmung irren könnten. Zum anderen sollen sie nur dann mit dem Signal abwarten, wenn aus ihrer Sicht ein Angriff läuft, aus dem sich rasch eine Torchance ergeben könnte.

Es liegt auf der Hand, dass diese Kriterien subjektiv und damit eine Frage des Ermessens sind: Ab wann ist ein Abseits knapp? Ab wann ist ein Angriff unmittelbar torgefährlich? Die Assistenten müssen darüber in Sekundenbruchteilen urteilen und können deshalb auch mal danebenliegen. Doch wesentlich ist die Maßgabe, dass ein Angriff nicht durch ein falsches Fahnenzeichen, dem dann ein falscher Pfiff folgt, beendet wird.

Der TV-Zuschauer sieht oft mehr als der Schiedsrichter-Assistent

Als Zuschauer mag man manches Mal ausrufen: Aber das war doch gar nicht knapp, sondern deutlich! Warum wartet der Assistent dann trotzdem ab? Doch oft stellen sich Abseitssituationen, die im Fernsehen mit seinen Zeitlupen und Standbildern klar aussehen, für die Schiedsrichter-Assistenten auf dem Feld weniger deutlich dar. Dafür kann es verschiedene Gründe geben.

Wenn der Assistent beispielsweise nicht exakt auf der Abseitslinie postiert ist – was gerade bei schnellen oder überraschenden Angriffen passieren kann –, verschiebt sich zwangsläufig sein Blickwinkel, was seine Wahrnehmung und damit auch seine Bewertung beeinflussen kann. Befinden sich Angreifer und Verteidiger in einer gegenläufigen Bewegung, verändert sich die Situation zudem in Sekundenbruchteilen.

Klare Abseitsstellungen sind selten geworden

Im modernen Profifußball sind die Spieler längst so gut, dass ein Angreifer nur noch selten mehrere Meter und damit wirklich sehr klar im strafbaren Abseits ist. Fast immer geht es knapp zu – und wenn man heute schon einen halben Meter als klar empfindet, sagt das vor allem etwas über veränderte Sehgewohnheiten aus. Die Tätigkeit der Assistenten ist im Laufe der Jahre immer anspruchsvoller geworden.

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Man mag die verzögerte Zeichengebung beim Abseits bisweilen nervig finden – aber dadurch kommt es nur noch im Ausnahmefall dazu, dass ein vielversprechender Angriff oder gar eine klare Torchance durch einen falschen Abseitspfiff zerstört wird. Wenn die Assistenten heute erst mit Verspätung "winken", hat das jedenfalls nichts mit Wankelmütigkeit oder mangelnder Entschlusskraft zu tun.

Wann werden die Abseitslinien eingeblendet?

Bleibt noch die Frage zu klären, wann die Fernsehzuschauer die virtuellen Abseitslinien zu sehen bekommen. Prinzipiell soll das immer dann der Fall sein, wenn sich bei einem – gültigen oder annullierten – Tor die Abseitsfrage gestellt hat und es knapp zuging. Dann sollen die kalibrierten Linien des VAR eingeblendet werden, um zu zeigen, dass (k)ein Abseits vorlag.

Die Beweisbilder werden dabei aus den Räumlichkeiten des VAR an die Fernsehsender geschickt. Bei der EM ist die Uefa für die TV-Bilder zuständig und blendet die Screenshots mit den kalibrierten Linien selbst ein.

Redaktioneller Hinweis

  • Der Originalartikel von Alex Feuerherdt erschien im Juli 2021 unter dem Titel "Deshalb heben die Assistenten beim Abseits oft so spät die Fahne". Diese aktualisierte Version enthält zum Großteil Textteile aus diesem Kolumnen-Beitrag.
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