Die Türkei steht vor dem EM-Aus nach der Gruppenphase. Nur ein Kantersieg gegen Tschechien kann die Mannschaft jetzt noch retten – und selbst das nur, falls andere Gruppendritte noch schlechter abschneiden. Die Fans sind sauer, die Mannschaft unsicher. Und der Trainer droht mit Konsequenzen.

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Die Türken reisten mit wehenden Fahnen in Richtung Frankreich. Die Europameisterschaft 2012 hatte die Türkei verpasst, aber diesmal, da waren sich viele Fans sicher, würde alles besser werden. So wie 2008, als die Türken bis ins Halbfinale vordrangen, wo sie schließlich nur knapp an der deutschen Nationalmannschaft scheiterten.

Spielplan Fußball-EM 2016 in Frankreich

Fatih Terim, der Trainer der Türken, pumpte das Selbstvertrauen seiner Mannschaft und der Fans noch weiter auf, als er in einem Interview mit dem Fachblatt "Kicker" sagte, er und sein Team würden nicht nach Frankreich fahren, "um Fünfter, Sechster oder Achter zu werden. Unser Ziel ist höher."

Die Türkei müsste hoch gewinnen – und hoffen

Nach zwei Spieltagen in der EM-Gruppe D sieht es nun aber so aus, als würde die Türkei es nicht mal bis ins Achtelfinale schaffen. Ohne Punkte stehen die Türken auf dem letzten Platz der Tabelle. Gegen Kroatien verlor die Mannschaft knapp mit 0:1, was jedoch eher an der schlampigen Chancenverwertung der Kroaten als an der Leistung der Türken lag. Gegen Titelverteidiger Spanien unterlagen die Türken deutlich und auch in der Höhe gerechtfertigt mit 0:3.

Um trotz dieser beiden Niederlagen noch eine Chance auf das Achtelfinale zu haben, müssten die Türken in ihrem letzten Gruppenspiel hoch gegen Tschechien gewinnen und gleichzeitig hoffen, dass die Gruppendritten der anderen fünf Staffeln noch schlechter dastehen als sie selbst.

Ein nicht übermäßig wahrscheinliches Szenario: Die Tschechen unterlagen gegen Spanien nur mit 0:1 und erreichten gegen Kroatien ein schmeichelhaftes 2:2-Unentschieden. Zudem steht das Torverhältnis der Türkei vor dem letzten Gruppenspiel bei minus vier – sowohl Albanien in Gruppe A (3 Punkte, Differenz: -2) als auch die Slowakei in Gruppe B (4 Punkte, Differenz: 0) sind da besser unterwegs.

Die Qualifikation verlief holprig

Die Mannschaft steht deswegen jetzt in der Kritik. Gegen Spanien wurde vor allem Kapitän Arda Turan von den eigenen Fans im Stadion ausgepfiffen, in den sozialen Medien werden die türkischen Spieler teils wüst beschimpft. Aber wäre das EM-Aus in der Gruppenphase wirklich so eine große Überraschung?

Der Blick auf die Qualifikationsspiele der Türken legt das Gegenteil nahe. Nur als bester Gruppendritter löste die Türkei das Ticket für die Endrunde in Frankreich – hinter Tschechien und Sensationsteam Island, vor den Niederlanden, Kasachstan und Lettland.

Überzeugen konnte die Mannschaft gegen diese Gegner höchst selten, stattdessen war die Qualifikationsrunde ein ständiges Auf und Ab. Am ersten Spieltag verloren die Türken gegen Island mit 0:3, am achten Spieltag besiegten sie Holland mit 3:0. Gegen den Gruppenletzten Lettland spielte die Türkei in Hin- und Rückspiel jeweils nur 1:1. Berechtigungen für große Erwartungen waren das nicht. Und ob die Testspiel-Siege gegen Schweden (2:1), Österreich (2:1), Montenegro (1:0) und Slowenien (1:0) Anlass für Titelträume sind, sei dahingestellt.

Bundesliga-Spieler helfen nicht weiter

Individuell ist der Kader der Türken mit starken Fußballern besetzt. Jedoch gibt es nur wenige Spieler, die international bisher von sich Reden machen. Die meisten EM-Fahrer spielen in der heimischen Süper Lig, die im Vergleich mit den Ligen in England, Spanien und Deutschland ein mäßiges Renommée besitzt.

In den Reihen der Türken befinden sich auch drei Bundesliga-Spieler: Hakan Calhanoglu von Bayer 04 Leverkusen, Nuri Sahin von Borussia Dortmund und Yunus Malli vom 1. FSV Mainz 05. Zudem wechselt der 18-jährige Emre Mor zur kommenden Saison vom dänischen Klub Nordsjaelland zum BVB.

Von den Vieren ist einzig Calhanoglu Stammspieler unter Fatih Terim. Er stand sowohl gegen Kroatien als auch gegen Spanien in der Startelf. Mor kam zu einem Kurzeinsatz gegen die Kroaten. Gegen Spanien spielte Sahin in der zweiten Halbzeit für Calhanoglu, Malli kam für die letzten 20 Minuten ins Spiel. Keiner von ihnen konnte das Spiel der Türken verbessern.

Arda Turan wird vom Idol zum Sündenbock

Der größte Star im türkischen Team ist ohnehin ein anderer: Arda Turan. Der 29-Jährige stammt aus der Galatasaray-Jugend und wechselte 2011 zuerst zu Atletico Madrid, bevor er im Sommer 2015 zum großen FC Barcelona ging. Stolze 34 Millionen Euro legten die Katalanen für den schnellen und technisch starken offensiven Mittelfeldspieler auf den Tisch. Eine stolze Summe.

Wegen des gegen Barcelona verhängten Transferverbots für das Sommer-Transferfenster 2015 darf Turan jedoch erst seit Januar diesen Jahres eingesetzt werden. In der Folge hatte er Schwierigkeiten, sich im Star-Ensemble des FC Barcelona zu behaupten und musste sich häufig mit der Rolle als Ergänzungsspieler begnügen.

Verteilt auf Liga, Pokal und Champions League kam er zwar immerhin noch auf 25 Einsätze. In der Liga gelangen ihm dabei zwei Tore und drei Vorlagen. Aber ideal ist so eine zerstückelte Saison als Vorbereitung auf ein großes Turnier sicher nicht. Die Quittung: Sowohl gegen Kroatien als auch gegen Spanien blieb Turan blass. Für viele Fans ist er, der noch vor kurzem ihr Idol war, nun der Sündenbock.

Fatih Terim: "Werde Konsequenzen ziehen!"

Nach der Niederlage gegen Spanien war Trainer Terim sichtlich enttäuscht. Er sagte: "Meine Spieler haben in diesem Spiel das Handtuch geworfen, das kann ich nicht akzeptieren. Ich habe noch nie in meinem Leben das Handtuch geworfen und mich auch nie mit Leuten umgeben, die so etwas tun. Sie können mir glauben, ich werde die Konsequenzen ziehen."

Wie er das meinte, ist seither Gegenstand wilder Spekulationen: Sie reichen von einer gründlich veränderten Aufstellung gegen Tschechien bis hin zum Rücktritt Terims, sollte die Türkei in der Gruppenphase aus der EM ausscheiden. Und das erscheint mit dieser Mannschaft und vor dem Hintergrund solcher Turbulenzen beinahe unausweichlich.

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