Deutschland hat bei der EM 2016 sein wahres Gesicht gezeigt. Im abschließenden Gruppenspiel dominierte das DFB-Team Nordirland nach Belieben und zieht als Erster der Staffel C ins Achtelfinale ein. Joshua Kimmich gibt dabei ein erstaunliches Debüt rechts in der Viererkette. Dennoch: Die Leistung der Mannschaft sollte man aber nicht überhöhen. Zumal sich ein altbekanntes Problem wieder eingeschlichen hat.

Mehr News zur Fußball-EM

Ist Deutschland jetzt wieder der große Turnierfavorit? Nach einem 1:0 gegen Nordirland? Das letzte Spiel in der Gruppe C war das beste der deutschen Mannschaft bei dieser Europameisterschaft, da dürften sich alle einig sein.

Die DFB-Auswahl spielte flüssig und sehr dominant. Die Laufwege in der Offensive waren wieder besser aufeinander abgestimmt, am Ende standen beachtliche 26:2 Torschüsse für Deutschland.

Aber so überzogen die Kritik nach dem mageren 0:0 gegen die Polen an der Mannschaft und deren Offensivleistung war, so groß ist jetzt die Gefahr, den überzeugenden Sieg gegen Nordirland zu glorifizieren. Teile der Medien jedenfalls skizzierten ein überdreht positives Bild, ganz im Gegensatz zum Gros der Spieler.

Spielplan Fußball-EM 2016 in Frankreich

Die deutschen Protagonisten sahen durch die Bank eine Leistungssteigerung, aber wussten den Sieg auch nüchtern einzuordnen und brandmarkten das fast schon traditionelle Problem der mangelnden Chancenverwertung. Besonders Joachim Löw zeigte sich deshalb nach dem Spiel nur halb zufrieden. Das Spiel sei in Ordnung gewesen, die Offensivaktionen endlich wieder mit dem nötigen Tempo ausgeführt worden.

Die klassischen Probleme

Dass aus acht Großchancen aber nur ein mickriges Törchen heraussprang, machte den Bundestrainer sichtlich mürrisch. "Wir haben sehr gute Chancen herausgespielt, aber viele Chancen vergeben. Der Gegner hatte keine Torchancen, wir hätten einfach vor dem Tor zielstrebiger und konsequenter sein müssen. Wir hätten zur Halbzeit drei oder vier zu Null führen müssen", zürnte Löw.

Mesut Özil, der ansonsten ein starkes Spiel machte, haute wenige Meter vor dem Tor ein Luftloch. Mario Götze und Thomas Müller vergaben zweimal frei vor Nordirlands Torhüter McGovern, Müller traf zudem noch doppelt Aluminium, als McGovern doch mal geschlagen war.

Der Bayer, der auch nach acht EM-Spielen weiter auf sein erstes Tor wartet, hätte einen großen Sprung in der Torjägerliste machen können. "Ich bin zu mehr Torchancen gekommen als in den letzten acht Spielen. Allein ich hätte heute mit Gareth Bale gleichziehen müssen", sagte Müller selbstkritisch.

In der Gruppenphase dieser EM hat Deutschland also die üblichen Kardinalprobleme offenbart: Die Defensivbewegung und die fehlende Effizienz vor dem gegnerischen Tor. Den Schwierigkeiten in der Rückwärtsbewegung wurde das Team in den vergangenen beiden Spielen Herr. Und vielleicht kann man die Sache mit der Chancenverwertung auch positiv betrachten: Immerhin erspielt sich Deutschland Möglichkeiten in großer Zahl.

Kimmich offensiv stark - defensiv kaum zu bewerten

Löws taktische Umstellungen und auch ein personeller Kniff machten sich gegen die tapferen, aber spielerisch doch arg limitierten Nordiren besonders positiv bemerkbar. Joshua Kimmichs Einsatz als nomineller rechter Verteidiger erwies sich als richtige Lösung eines schwelenden Problems.

"Joshua hat ein starkes Spiel gemacht, der Bundestrainer hat die richtige Entscheidung getroffen", sagte der, den es unmittelbar betraf: Nämlich Benedikt Höwedes, der für Kimmich weichen musste.

Gegen die ultra-defensiven Nordiren mit ihrer Sechserkette in der letzten Linie entzerrte Kimmich als verkappter Flügelstürmer das Gedränge im Zentrum, er und auf der Gegenseite Jonas Hector hielten konsequent die Linie und machten das deutsche Spiel breit.

Plötzlich hatte die deutsche Mannschaft einen rechten Flügel, wo in den beiden Partien davor noch eine spielerische Einöde war. So konnten in der Mitte immer wieder Pässe durch das Gewirr britischer Abwehrbeine gespielt werden. Und ging im Zentrum mal nichts, spielte Deutschland oft und gerne über den rechten Flügel.

Kimmichs Timing, sich öffnende Räume anzulaufen und seine feinen Flanken rundeten sein bärenstarkes zweites Länderspiel ab. Allerdings konnte man kaum Rückschlüsse auf seine Defensivbewegung ziehen. Zu ungefährlich war dafür der Gegner. Gegen Teams, die Deutschland spielerisch beherrschen kann und die mit einer eher defensiven Grundordnung aufwarten, hat sich Kimmich als Option bewährt.

Sehr wahrscheinlich trifft Deutschland am Sonntagabend auf die Slowakei, Kimmich dürften dabei gute Startchancen eingeräumt werden. Ob der Youngster aber auch schon eine Alternative für ein mögliches Viertel- oder gar Halbfinale wäre, dann womöglich mit Italien und Frankreich als Gegner?

"Können noch eine Schippe drauflegen"

Ab Sonntag beginnt die EM so richtig. Bisher hat die deutsche Mannschaft durchblicken lassen, zu was sie imstande ist. Das war nicht immer souverän oder schön und schon gar nicht berauschend. Aber in einem Turnier benötigen Spitzenmannschaften auch immer eine Klimax, sie sind in der Lage, sich im Verlauf der Veranstaltung immer noch zu steigern.

"Wenn wir auf die absoluten Top-Teams treffen, werden wir noch eine Schippe drauflegen können", verspricht Mats Hummels. Wichtig wäre es dann nur, wenn die Mannschaft auch in bester Besetzung antreten könnte.

Jerome Boateng musste Mitte der zweiten Halbzeit angeschlagen vom Platz, der Abwehrchef hatte sich an der Wade verletzt. Eine neue Episode der "Wade der Nation", die Michael Ballack vor rund zehn Jahren schrieb, braucht jetzt niemand.

Und eine Chancenverwertung wie gegen die Nordiren auch nicht. "Wenn man in der K.o.-Runde mal nur wenige Torchancen bekommt, dann muss man die alle auch verwerten", sagte Löw noch und schickte eine ernste Botschaft an seine Spieler hinterher. "Damit kann man nicht spaßen! Da müssen wir auch mal das Tor treffen."

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.