Julian Nagelsmann hat seine Aufstellung für die EM 2024 gefunden. Taktik-Fuchs und Ex-Profi Thomas Broich erklärt, was dem Bundestrainer vorschwebt – und was die große Gefahr dieser Taktik ist.

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Thomas Broich beobachtet den Fußball akribisch. Wie sind die Laufwege? In welchen Zonen zieht eine Mannschaft ihr Dreieckspiel auf? Was passiert in den Umschaltmomenten? Seine Expertise teilt er kurz vor Beginn der EM im Gespräch mit unserer Redaktion.

"Die richtigen Problemlöser sind die Trickser und Knipser", sagt der ARD-Experte vor dem Auftakt Deutschlands in die Heim-EM 2024 gegen Schottland an diesem Freitag (21 Uhr, hier im Live-Ticker). Broich ergänzt: "Die Jungs auf dem Flügel, die dir sagen: 'Gib mir den Ball, und ich mach das.' Oder wenn du bei einer Belagerung des Gegners eine richtige Neun vorne drin hast, Niclas Füllkrug etwa, den du mit Flanken suchst."

Flinke Außenspieler wie Leroy Sané (FC Bayern) und einen klassischen Mittelstürmer wie Dortmunds Füllkrug werden die deutschen Fans im Eröffnungsspiel der Gruppe A in München aber zumindest in der Startelf wohl nicht sehen. Denn: Julian Nagelsmann hat seine Aufstellung gefunden. Und in dieser geht es laut Broich offensiv vorrangig um "Flügel-Zehner", wie der 43-jährige Oberbayer die Startelf-Spieler Jamal Musiala (Bayern), Florian Wirtz (Bayer Leverkusen) und Kai Havertz (FC Arsenal) bezeichnet.

Broich ist ein Fachmann darin, Spielsysteme und taktische Ideen von Trainern zu entschlüsseln. Er war als zentraler Mittelfeldspieler einst selbst ein Stratege auf dem Platz, lief für Gladbach, den 1. FC Köln und den 1. FC Nürnberg 87 Mal in der Bundesliga auf. Gemeinsam mit dem früheren Fußball-Profi Jerome Polenz bereitet er für die "Sportschau" der ARD, für die er bei der Heim-EM als Experte im Einsatz sein wird, Taktik-Analysen auf.

Thomas Broich über die Nagelsmann-Taktik

So hat er vor dem Schottland-Spiel eine klare Nagelsmann-Taktik ausgemacht. "Kurze Pässe, das Zocken durch die Mitte - alle, die das spanische Fußball-Gen in sich haben, werden diesen Fußball lieben", sagt Broich unserer Redaktion und erklärt: "Natürlich gibt es auch Spieler, die das Ganze in die Breite ziehen. Das sind bei Nagelsmann aber keine Flügelstürmer. Bei ihm schlüpfen die Außenverteidiger in diese Rolle, die mitunter sehr hoch stehen." Dem Bundestrainer gehe es viel mehr um "das Zentrum" am und im Sechzehner, in dem "wir unheimlich talentierte Fußballer haben, die dort immer wieder die Positionen tauschen", analysiert der TV-Experte. "Ich sehe die Chance, dass wir die Schotten regelrecht filetieren, dass wir immer wieder sauber durch die Schnittstellen hindurch spielen."

Nagelsmann fordere zudem, "dass die Struktur im Ballbesitz so gut ist, dass seine Spieler sofort wieder Zugriff haben, wenn sie den Ball verlieren. Das Zentrum ist deshalb extrem überladen", sagt Broich: "Funktioniert das, kann sich der Gegner nicht mehr befreien, wenn sich die Schlinge zusammenzieht."

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Deutschland müsse mit dieser Spielweise bei Ballverlusten aber gehörig aufpassen, erklärt er: "Wenn zu viele Spieler vor dem Ball sind, greift das Gegenpressing ins Leere und die Wege für die Außenverteidiger nach hinten werden unfassbar weit, während der Konter rollt." Das Risiko im Spielaufbau sei der Raum zwischen den Innenverteidigern und den Außenverteidigern.

"Die deutsche Mannschaft baut ihr Spiel sehr eng auf. Toni Kroos, Robert Andrich, Ilkay Gündogan und Wirtz kommen oft zusammen und dann wird auf engem Raum gezockt. Die Außenverteidiger sind erstmal ein Stück weit weg. Genau diese Lücken können zur Einfallsschneise werden", erklärt Broich die taktische Schwachstelle. Er rät, dass die Außenverteidiger nicht zu früh zu hoch angreifen sollen. "Deshalb muss immer ein Mittelfeldspieler ein Auge auf die Konterabsicherung haben und Zugriff finden."

Taktik gegen Schottland: Sané, Führich und Beier in der Hinterhand

Broich warnt vor einer Gefahr: "Mannschaften, die schnelle Umschaltspieler haben, sind in der Lage, uns wehzutun. Da brauchen wir uns nichts vorzumachen. Wir haben kürzlich die Ukraine mit Mychajlo Mudryk erlebt oder die Franzosen mit Kylian Mbappé und Ousmane Dembelé."

Schottland hat mit Liverpool-Star Andy Robertson einen Mann, der gefährliche Diagonalbälle hinter die letzte Kette spielen kann. Dasselbe gilt für Ungarns Dominik Szoboszlai (ebenfalls FC Liverpool), gegen dessen Team es im zweiten Gruppenspiel in Stuttgart (19. Juni, 18 Uhr) geht. Und es gilt für den Schweizer Granit Xhaka (Leverkusen), den Kontrahenten zum Abschluss der Vorrunde in Frankfurt (23. Juni, 21 Uhr). Gerade die Eidgenossen haben mit Noah Okafor (AC Mailand), Dan Ndoye (FC Bologna) und Zeki Amdouni (FC Burnley) drei Angreifer, die sehr dynamisch umschalten können.

Und welchen X-Faktor kann Nagelsmann bringen, sollten sich über das Zentrum keine Tore ergeben? "Maxi Beier. Er bringt viele interessante Momente rein. Er ist sehr geschmeidig in seinen Bewegungen, ist super torgefährlich und hat Tempo", sagt Broich über den 21-jährigen Stürmer aus Hoffenheim, der beim 2:1 (0:1) gegen Griechenland nach seiner Einwechslung überzeugte. Und wenn es bei einem Rückstand doch Eins-gegen-Eins-Aktionen benötige, erklärt er, "haben wir Sané und Chris Führich in der Hinterhand".

Über den Gesprächspartner

  • Thomas Broich war als Profi unter anderem in der Bundesliga bei Mönchengladbach am Ball und wechselte später nach Australien. Einem breiten Publikum ist er als TV-Experte bekannt.

Verwendete Quellen

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Julian Nagelsmann hat eine bittere Nachricht für Aleksandar Pavlovic

Zwei Tage vor dem Eröffnungsspiel der EM gegen Schottland muss Bundestrainer Julian Nagelsmann in seinem Aufgebot eine Veränderung vornehmen. Aleksandar Pavlovic macht die Gesundheit einen Strich durch due Rechnung. Sein Pech wird für einen Routinier kurzfristig zum Glück. (Foto: Federico Gambarini/dpa)
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