Der FC Liverpool fliegt gegen Atletico aus der Königsklasse raus. Madrids Mauertaktik, die beiden Torhüter und ein Aushilfs-Torjäger der Spanier machen Jürgen Klopp wild - der nun mit seinen Reds sogar den sportlichen GAU befürchten muss?

Eine Analyse

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Es war ein letzter Akt der Verzweiflung, als Liverpools Trainer Jürgen Klopp spät am Mittwochabend das Stadion noch einmal mobilisieren wollte. Divock Origy ist seit jener magischen Nacht vom Mai gegen den FC Barcelona so etwas wie ein Volksheld in diesem an Volkshelden nicht eben armen Klub.

Die Tore des Belgiers, hinter dem Spitzentrio Mane-Firmino-Salah lediglich die Nummer vier in Liverpools Angriff und der erste und beste Einwechselspieler, entfachten damals jene Superkräfte, die Liverpool fliegen und Barca wie eine Schülermannschaft aussehen ließen. Origy ist seitdem das Sinnbild des Wunders von Anfield.

Nun brauchte Klopps Mannschaft gegen Atletico nicht weniger als noch ein Wunder, als Origy 15 Minuten vor dem Ende der Verlängerung aufs Feld durfte. 2:2 stand es da aus Sicht der Gastgeber, die dank eines Treffers von Georginio Wijnaldum den Rückstand aus dem Hinspiel erst egalisiert und dann kurz nach Anpfiff der Verlängerung den Vergleich vermeintlich komplett gedreht hatten. Firmino hatte zum 2:0 getroffen - nur um dann durch einen Doppelschlag der Spanier vor dem Nichts zu stehen. Die Reds benötigten zwei Tore in 15 Minuten gegen die wohl immer noch beste Defensive der Welt, wenn es darum geht, einen Vorsprung irgendwie über die Zeit zu arbeiten. Also Origy, also noch einmal alles mobilisieren, was Anfield und die Fans dort hergeben.

Simeones Mauer

Dieses eine Mal blieb der Zauber aber ein flüchtiger Gast. Liverpool zerschellte förmlich an der Elf-Mann-Mauer der Spanier, die sich wie in einem Grabenkrieg am und um den eigenen Strafraum verbarrikadierten. Diego Simeones Strategie der reinen Abwehrschlacht obsiegte gegen eine bärenstarke, aber letztlich nicht besonders konsequente Liverpooler Mannschaft. 3:2 hieß es am Ende nach Toren, was ein ziemlicher Witz war angesichts der anderen Zahlen, die der Abend so brachte. Liverpool hatte in 120 Minuten 34 Torschüsse, die Gäste nicht einmal ein Drittel davon. 72 Prozent Ballbesitz und 16 zu drei Ecken verzeichnete Liverpool, das quasi pausenlos das Tor von Jan Oblak berannte.

Aber am Ende zählen nicht die Chiffren auf dem Statistikbogen, sondern immer noch Tore. Und davon hatte Liverpool in der Endabrechnung trotz zweier überlegen geführter Spiele zu wenige. "Fußball ist gerecht, wir haben zwei geschossen, die drei. Sie haben zu Hause 1:0 gewonnen und sind verdient weitergekommen", sagte Jürgen Klopp nach dem Spiel bei "DAZN" und man konnte Liverpools Trainer diese Mischung aus Enttäuschung, Wut, Objektivität und später auch ein wenig Kontrollverlust förmlich ansehen. Klopp oszillierte zwischen einer nüchternen Betrachtung, hob die taktische Finesse seiner Mannschaft hervor und die einiger Einzelspieler, es hörte sich an wie eine fundierte Spielanalyse. Und plötzlich wechselte Klopp dann wieder in seinen Aggressivmodus.

Klopp: Ich bin ein beschissener Verlierer

"Ich merke einfach, was für ein beschissener Verlierer ich bin! Ich könnte die ganze Zeit darüber reden, wie man mit so einer Mannschaft so einen Fußball spielen kann? Das verstehe ich nicht. Auch wenn sie gewonnen haben", sagte Klopp also und attackierte damit frontal Atleticos ultra-defensive Spielweise. Dass die angesichts eines 1:0-Vorsprungs, der Wucht des Gegners und dessen Stadions aber auch nachvollziehbar war und man von Atletico in einer solchen Lage nun wirklich nichts anderes erwarten sollte, ist auch klar. "Wir haben bis zum Gegentor so gut gespielt gegen eine Mannschaft, die mit Weltklassespielern gespickt ist, sich aber dazu entscheidet zu spielen wie jemand, der um den Klassenerhalt kämpft. Wir haben - außer dass wir den Ball nicht oft genug reingeschossen haben - alles richtig gemacht."

Klopp ging dann noch etwas den Schiedsrichter an, beklagte sich darüber, dass der beide Mannschaften gleich behandelt habe, obwohl "die eine Mannschaft versucht, etwas machen, zu kreieren, also Fußball. Und die andere halt nicht." Da verlor Liverpools Coach selbst etwas das kommunikative Gleichgewicht, aber es brauchte offenbar einfach dieses Ventil nach einem einmal mehr nervenaufreibenden Fußballabend, der für die Reds in einer nächsten bitteren Niederlage endete. Und das auf fast tragische Art.

Die Keeper und Llorente

Nach langer Zeit machte mal wieder der Torhüter einen sehr entscheidenden Unterschied. Während Jan Oblak auf Seiten der Gäste zeigte, warum er auch unter größtem Druck einer der besten Keeper der Welt ist, zerbrach Liverpools Ersatzmann Adrian an der großen Aufgabe. Das letzte Mal, als ein Liverpooler Torhüter entscheidend patzte wie Adrian mindestens beim ersten Gegentor, war im Champions-League-Finale vor knapp zwei Jahren, als Loris Karius zwei folgenschwere Fehler unterliefen. In Abwesenheit des verletzten Alisson Becker wurde die Torhüterposition für die Reds mal wieder zum Problem.

Und dann war da noch Marcos Llorente. Der ist von Beruf defensiver Mittelfeldspieler und nicht verdächtig, besonders torgefährlich zu sein. In über 6.000 Minuten als Profi hatte Llorente drei Tore geschossen. In Anfield benötigte er für die beiden entscheidenden Treffer keine zehn Minuten. Llorente sorgte für das Novum, dass Klopps Liverpool erstmals überhaupt aus einer K.o.-Runde flog. Davor hatte sich die Mannschaft mit ihrem deutschen Trainer in allen zehn Vergleichen in Champions League und Europa League immer in Hin- und Rückspiel durchgesetzt. Nun also das Ausscheiden in der Runde der besten 16. Auch das gab es schon einmal, 2006 krachten die Reds gegen Benfica so früh raus - auch damals als amtierender Champion.

Damit sind die Pokalwettbewerbe für Klopps Mannschaft erstaunlich früh in der Saison beendet. Nach dem abgeschenkten League Cup, als die Reds aufgrund der Terminhatz nur eine C-Elf gegen Aston Villa stellten und mit 0:5 verloren, und dem jüngsten Ausscheiden im FA-Cup beim FC Chelsea nun also auch das Aus in der Champions League. "Wir haben zweieinhalb Jahre in der Champions League eine Reise gehabt, die war Wahnsinn", sagte Klopp. "Aber jetzt ist erstmal Feierabend in der Champions League. Das muss man akzeptieren - aber wir kommen ja wieder."

Am Montag vielleicht schon Meister?

Ziemlich sicher wird diese Rückkehr als englischer Meister gelingen. Neun Spieltage vor Schluss beträgt der Vorsprung auf Manchester City 25 Punkte, wobei die Citizens noch eine Partie in der Hinterhand haben. Theoretisch könnte es schon am kommenden Montag so weit sein, wenn Liverpool das Derby gegen Everton gewinnt und City davor gegen Burnley verliert. Spätestens aber dann in der Woche drauf, beim Heimspiel gegen Crystal Palace. Nach einer fantastischen Fabel-Saison der Reds ist längst alles klar in der Premier League - und doch ist im Moment gar nichts klar. "Jetzt müssen wir Meister werden. Wir haben noch ein paar Spiele zu spielen und kennen unsere Gegner. Aber wir müssen die Gesamtsituation abwarten, wie es weitergeht", sagt Klopp.

Das Coronavirus und die Unklarheit, wie der Ligaverband damit umgehen will, lassen mittlerweile doch den einen oder anderen Zweifel zu. Am kommenden Wochenende soll gespielt werden, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Aber was passiert danach? Aktuell trudeln die Meldungen im Stunden-Takt ein und nicht wenige treibt das absolute Horroszenario längst um: Was, wenn die Liga nur noch diesen einen Spieltag spielen lässt? Und danach die Saison aussetzt, am Ende sogar annulliert? Dann fehlte Liverpool trotz gigantischen Vorsprungs ein lumpiges Spiel, um die Sache klarzumachen.

Noch sind das alles Hirngespinste. Aber weiß denn schon, was noch alles kommt…

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