Waren die Video-Assistenten zu Saisonbeginn übereifrig, werfen ihnen nun einige eine zu starke Zurückhaltung vor. Die Dortmunder etwa wünschten sich gleich in zwei Situationen einen Eingriff, den es jedoch nicht gab. In drei anderen entscheidenden Situationen an diesem Spieltag waren die Helfer am Monitor dagegen punktgenau zur Stelle.

Alex Feuerherdt, Schiedsrichter
Eine Kolumne

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Borussia Dortmund haderte nach dem Remis bei der TSG 1899 Hoffenheim (1:1) mit Schiedsrichter Harm Osmers und dessen Video-Assistenten Christian Dingert. Denn der Unparteiische hatte gleich zwei spielrelevante Entscheidungen zuungunsten des BVB getroffen, die nicht nur die Westfalen für eindeutig falsch hielten.

Doch sein Helfer in Köln war beide Male nicht eingeschritten: Nicht nach sieben Minuten, als Christian Pulisic zu Boden ging, nachdem ihn der Hoffenheimer Nico Schulz auf der eigenen Strafraumlinie auf den Fuß getreten hatte, Osmers jedoch weiterspielen ließ.

Wann ist Schiedsrichter-Entscheidung so klar falsch?

Und nicht nach 76 Minuten, als Abdou Diallo wegen einer Notbremse vom Platz gestellt wurde. Obwohl es sehr fraglich war, ob sein Gegenspieler Andrej Kramaric den Ball noch erreicht und damit eine offensichtliche Torchance gehabt hätte. Dass Dingert so zurückhaltend war, berührt ein Kernproblem des Videobeweises im Fußball.

Seit es ihn gibt, dreht sich ein erheblicher Teil der Aufregung über ihn um die Grundsatzfrage: Wann ist eine Entscheidung des Schiedsrichters so klar falsch und so offensichtlich nicht mehr vertretbar, dass dem Video-Assistenten sich zwingend einschalten muss? Und wann existiert noch ein Ermessensspielraum, der die auf dem Feld getroffene Entscheidung jedenfalls nicht vollkommen abwegig erscheinen lässt?

Video-Assistent soll kein Oberschiedsrichter sein

Wenn es nur Schwarz und Weiß gibt – wie bei Abseitsstellungen im Zuge einer Torerzielung oder bei der Frage, ob ein Foul innerhalb oder außerhalb des Strafraums begangen wurde – fällt die Antwort leicht. Doch sobald die Bilder interpretiert werden müssen und nicht eindeutig sind, gibt es selten nur eine Meinung.

Folgerichtig muss für die Video Assistant Referees (VAR) eine Eingriffsschwelle definiert werden. Diese soll nach dem Willen der Regelhüter vom International Football Association Board (Ifab), aber auch nach Ansicht des DFB, möglichst hoch liegen. Vor allem dann, wenn der Unparteiische zu verstehen gibt, dass er eine Entscheidung aus günstigem Blickwinkel getroffen hat und keinerlei Zweifel an ihr hat.

Denn der VAR soll kein Oberschiedsrichter sein. Vom Regelwerk her ist er es ohnehin nicht – dort ist klar festgelegt, dass das letzte Wort immer beim Referee auf dem Platz liegt. Aber er soll auch nicht durch niedrigschwellige Interventionen zu viel Einfluss auf das Spiel nehmen. In der Rückrunde der vergangenen Bundesligasaison und bei der WM in Russland hat das insgesamt gut geklappt.

Zu große Zurückhaltung in Hoffenheim?

In dieser Saison jedoch suchen die Video-Assistenten noch nach einer klaren Linie. Am ersten Spieltag griffen sie viel zu häufig ein, am zweiten und dritten dagegen lief es sehr gut, wobei es auch nur wenige Situationen gab, in denen sie gebraucht wurden.

Bei vierten Durchgang wiederum wurde darüber gestritten, ob die Eingriffsschwelle diesmal nicht gelegentlich zu hoch angesetzt worden war. Tatsächlich fällt es schwer, angesichts von Schulz‘ klarem Tritt auf Pulisics Fuß ein stichhaltiges Argument für die Entscheidung des Unparteiischen auf dem Rasen zu finden.

Beim Feldverweis für Diallo dagegen lässt sich zumindest noch geltend machen, dass man nicht mit letzter Gewissheit sagen kann, wie sich der Angriff ohne das Foul entwickelt hätte. Die Rote Karte mutete jedenfalls nicht total abwegig an.

Warum griff der Video-Assistent in Nürnberg ein?

Vergleichsweise niedrig lag sie in der 28. Minute der Partie zwischen dem 1. FC Nürnberg und Hannover 96 (2:0), als der allen Gegnern davongeeilte Nürnberger Virgil Misidjan nach einer leichten Berührung an der Schulter durch Miiko Albornoz kurz vor dem Strafraum der Hannoveraner zu Boden ging. Dadurch war die glasklare Torchance dahin.

Schiedsrichter Bastian Dankert hatte gleichwohl kein Foul erkannt und ließ deshalb weiterspielen, sein Video-Assistent Tobias Stieler jedoch empfahl ihm den Gang in die Review Area. Dort betrachtete sich der Unparteiische lange die Bilder, bevor er seine Entscheidung änderte und Albornoz wegen einer Notbremse die Rote Karte zeigte.

Das war unumgänglich, wenn man den kurzen Kontakt an der Schulter als Foul wertet. Die Frage ist allerdings: War es wirklich ein klarer, offensichtlicher Fehler, weiterspielen zu lassen? Die Antwort darauf kann eigentlich nur "nein" lauten, denn dazu war die Situation zu uneindeutig.

Drei sehr gute Korrekturen

Unstrittig waren hingegen die drei übrigen Entscheidungsänderungen an diesem Spieltag. In Hoffenheim wurde nach 52 Minuten das vermeintliche 2:0 für die Hausherren zu Recht nachträglich annulliert, weil sich der Vorlagengeber Kramaric zuvor im Abseits befunden hatte.

Auch in Nürnberg gab es die Rücknahme eines Abseitstores nach der Prüfung durch den Video-Assistenten.

In Leverkusen durften sich die Mainzer nur kurz über ihren Führungstreffer freuen, denn die Bilder ließen zweifelsfrei erkennen, dass der Torschütze Robin Quaison den Ball zuvor absichtlich mit der Hand gespielt hatte. Für die Schiedsrichter auf dem Feld und ihre Assistenten waren alle drei Situationen schwer zu erkennen und die Eingriffe der VAR deshalb eminent wichtig.

Rollenverständnis und Flexibilität

Es ist wohl unvermeidlich, dass über solche sinnvollen, klaren und erfolgreichen Interventionen weniger gesprochen wird als über strittige (Nicht-)Einmischungen. Alles in allem scheinen die Video-Assistenten nach dem Übereifer zum Auftakt dieser Saison nun deutlich mehr Zurückhaltung walten zu lassen.

Das kann man in einzelnen Fällen falsch finden, aber es entspricht insgesamt der grundsätzlich erwünschten Linie, die auch bei der WM zu beobachten war: Sofern die getroffene Entscheidung nicht völlig absurd, sondern auf der Grundlage des Ermessens noch zu vertreten ist, bleibt sie bestehen.

Von den Video-Assistenten erfordert das auch Flexibilität und ein gewisses Rollenverständnis: Mit Ausnahme von Günter Perl sind sie alle als Bundesliga-Schiedsrichter unterwegs und es deshalb gewohnt, selbst die Entscheidungen zu treffen. Am Monitor haben sie jedoch eine andere Funktion, die Zurückhaltung erfordert. Leicht ist das gewiss nicht immer.

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