Jahrzehntelang war Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt Mannschaftsarzt des FC Bayern, 2020 beendete er seine Tätigkeit. Mittlerweile fühlt sich die Medizin-Koryphäe dem Verein nicht mehr wirklich verbunden, mit pointierten Aussagen tritt er jetzt gegen den Klub nach: bedacht, aber durchaus deutlich.
Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt ist der wohl bekannteste Sportmediziner Deutschlands, Bekanntheit (und Berühmtheit) erlangte er vor allem durch seine Tätigkeit als Mannschaftsarzt des FC Bayern. Jahrzehntelang war Müller-Wohlfahrt aus dem Klub nicht wegzudenken, unterbrochen von einer zweijährigen Pause war er von 1977 bis 2020 für den deutschen Rekordmeister tätig.
Müller-Wohlfahrt ist einer, der in seiner Zeit beim FC Bayern unendlich viele Einblicke erhalten hat, sich also bestens im Bayern-Kosmos auskennt. Doch neue Aussagen des 82-Jährigen machen deutlich: Der FC Bayern ist nicht mehr das, was er früher einmal war – zumindest wenn es nach Müller-Wohlfahrt geht.
Das Vereinsmotto "Mia san mia", das für ihn ein Gefühl ausdrücke, "das mit Stolz, Selbstbewusstsein und Zusammenhalt einhergeht", gehöre für ihn "eher der Vergangenheit an", erklärt er jetzt im Interview mit der "tz". "Ich glaube: Nur noch wenige Spieler spüren dieses Gefühl."
"Die Spieler rangieren auf einer Werteskala je nach Ablösesumme."
Müller-Wohlfahrt ist der Meinung, dass zahlreichen aktuellen Bayern-Spielern die Identifikation mit dem Verein fehle. Von Satz zu Satz entwickelt sich das Interview immer mehr zur leisen Abrechnung mit dem Ex-Arbeitgeber. Müller-Wohlfahrt haut dabei aber nicht drauf und wettert los, vielmehr wählt er seine Aussagen mit Bedacht und setzt einzelne Spitzen.
Etwa wenn er sagt, dass der FC Bayern früher eine Familie war, heute aber "mehr und mehr zu einem Großunternehmen" geworden sei. "Die Spieler rangieren auf einer Werteskala je nach Ablösesumme." Müller-Wohlfahrts Aussagen lassen sich als Vorwurf lesen, zumindest indirekt: Dem Verein fehlen Seele und Empathie.
Müller-Wohlfahrt: Gewisse Veränderungen lassen sich nicht aufhalten
Im Gespräch blickt die Medizin-Koryphäe auch in die Vergangenheit zurück, der 82-Jährige schwelgt förmlich in Erinnerungen: "Als ich in den 70er-Jahren anfing, waren es 16 Mitarbeiter – jetzt sind es mehr als 1.000. Man kannte sich, man hat sich geschätzt, einer war für den anderen da. Heute lebt das Mia san Mia am ehesten in der Fankurve weiter", sagt er und erklärt, dass sich die Veränderungen nicht aufhalten lassen. "Es ist der Wandel der Zeit."
Müller-Wohlfahrt wurde im Verein für seine Expertise geschätzt. Auch wenn er mal mit dem ein oder anderen Trainer aneckte, konnte er sich am Ende dennoch immer der Rückendeckung der Verantwortlichen sicher sein. Der Arzt genoss im Klub großes Vertrauen.
Eklat in Porto sorgte für Rücktritt von Müller-Wohlfahrt
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Nach dem Eklat sah sich Müller-Wohlfahrt zum Handeln gezwungen, wie er nun sagt. "Der fürchterliche Eklat in Porto hat mich tief getroffen. Von der anwesenden Vereinsführung hätte ich mir aufgrund meiner Verdienste Rückendeckung erwartet. Ich hätte Schuld an der Niederlage, lautete der Vorwurf. Das ist doch absurd! Das konnte ich nicht akzeptieren."
In der Folge trat Müller-Wohlfahrt zurück, nach der Ära Guardiola kehrte er auf Bitten der Bayern-Bosse aber nochmals zurück, ehe 2020 dann endgültig Schluss war.
Einen großen Abschied für den Mann, der durchaus als Vereinslegende bezeichnet werden kann, gab es allerdings nicht. Auch daran übt Müller-Wohlfahrt Kritik, ebenfalls eher indirekt und leise. "Wissen Sie, wie oft ich von Bayernmitgliedern die Frage gehört habe, warum es keine Standing Ovations, keine Blasmusik, kein Abschiedsgeschenk, kein Essen, keine Geste gegeben habe? Meine Reaktion darauf: Die Antwort kann nur der Verein geben."
Mittlerweile sehe er sich als "stillen Beobachter" des Vereins, zu einigen Bayern-Granden wie beispielsweise Uli Hoeneß pflege er noch immer ein freundschaftliches Verhältnis. Dennoch wird deutlich: Müller-Wohlfahrt, der jahrzehntelang untrennbar mit dem FC Bayern verbunden war, hat sich in den vergangenen Jahren vom Verein entfremdet. Weil sich der Verein selbst von seinen einstigen Grundsätzen entfernt hat?
"Tief getroffen haben mich menschliche Enttäuschungen."
"Der Verein war lange Jahrzehnte Teil meines Lebens. Ich habe mich mit dem Verein identifiziert und das Mia san Mia verinnerlicht", stellt Müller-Wohlfahrt klar. "Durch mein Tun fühle ich mich als Teil der Geschichte, des Aufbaus und des Erfolgs des FC Bayern." Dennoch bleibt ein fader Beigeschmack – sowohl für den Mediziner selbst als auch viele Fans, wenn der 82-Jährige rückblickend sagt: "Tief getroffen haben mich menschliche Enttäuschungen."
Und auch zum Abschluss des Gesprächs gibt es eine letzte Spitze von Müller-Wohlfahrt in Richtung Klub: Auf die Frage, was er dem Verein für die nächsten 125 Jahre wünsche, sagt er: "Dass er die Nummer eins in der Welt wird. Auf dem Fundament, das Uli geschaffen hat, lässt sich Großes weiterentwickeln. Vor allem aber wünsche ich dem Verein Menschlichkeit."