Fußballfans neigen zu Pathos und Übertreibung. Spätestens seit der großen Liverpool-Legende Bill Shankly wissen wir: Fußball, das ist nicht bloß eine Sache von Leben und Tod, sondern wesentlich mehr als das.

Christopher Giogios
Eine Kolumne
Diese Kolumne stellt die Sicht von Christopher Giogios dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Und so ähnelt die Gefühlslage eines Fans nach dramatischen Niederlagen den in der Wissenschaft beschriebenen Phasen der Trauer. Hier ist explizit von einer Niederlage die Rede, obwohl der BVB beim 3:3 im Stuttgart wenigstens einen Punkt geholt hat. An der Dortmunder Gefühlswelt ändert dies jedoch herzlich wenig.

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Phase 1: Soumaïla Coulibaly und das Nicht-Wahrhaben-Wollen

Disclaimer: Ich habe den Gegentreffer der Stuttgarter in der 97: Spielminute nicht einmal live gesehen. Als Josha Vagnoman den letzten und entscheidenden Stuttgarter Angriff über die rechte Seite initiierte, drehte ich mich bereits weg, weil ich ahnte, was nun passieren würde. Umso häufiger habe ich mir die Szene im Nachgang angesehen.

Selbst beim 100. Betrachten bleibt bei der Flanke in Richtung Strafraum eine irrationale, widersinnige Resthoffnung: eigentlich ein ungefährlicher Ball, den wird die Dortmunder Hintermannschaft schon klären. Und auch beim 100. Mal tritt Bundesligadebütant Soumaïla Coulibaly über den Ball und der freie Silas netzt ins rechte Eck ein.

Phase 2: Der Zorn über die Leistungsträger

Was man beim Betrachten dieser Szene ebenfalls nicht wahrhaben möchte: das Dortmunder Defensivverhalten. Anders als der 19-jährige Coulibaly, lediglich Unglücksrabe am Ende einer haarsträubenden Fehlerkette, löst das Verhalten anderer, gestandener Spieler jedoch blanke Wut aus.

Allen voran Marco Reus, der als Kapitän der Mannschaft gelassen nach hinten trabt - im Wissen, dass gerade der letzte Angriff des Spiels an ihm vorbeiläuft. Marco Reus, der angeblich danach giert, mit seinem BVB endlich eine Meisterschaft zu gewinnen. Marco Reus, der mit dem Verein weiterhin um einen gut dotierten Vertrag pokert. Marco Reus, der offenbar kein Verständnis dafür hat, dass die Verantwortlichen genau wegen solcher Auftritte auf eine leistungsbezogene Vergütung pochen.

Phase 3: Trauer um die verpasste Chance

Einige Zeit nach der Partie sackt allmählich die Erkenntnis: Die Borussia hat dieses Spiel, eine 2:0-Halbzeitführung in Überzahl bei einem Abstiegskandidaten, wirklich noch hergegeben. All dies, während der FC Bayern gegen die TSG Hoffenheim nicht über ein Unentschieden hinauskommt und damit verdeutlicht, was inzwischen jeder weiß: Die Bayern spielen eine für ihre Verhältnisse historisch schwache Bundesligasaison.

Das Meisterschaftsfenster ist für den BVB bei jedem Münchener Fehltritt offen, schloss sich in Stuttgart aber bereits zwischen der 93. und 97. Minute wieder. Meister werden, wenn man bei zwei Abstiegskandidaten in Gelsenkirchen und Stuttgart lediglich zwei von möglichen sechs Punkten holt? Eigentlich unmöglich.

Phase 4: Hoffnung

Wer die hier beschriebenen Phasen hautnah erleben möchte, dem sei die Pressekonferenz mit Edin Terzic ans Herz gelegt. Man sieht ihm förmlich an, wie er um Worte ringt, wie der Fan in ihm durchkommt, während er innerhalb weniger Minuten Unglauben, Enttäuschung und Wut durchlebt.

Zugegeben, in der Trauerbewältigung würde man hier nun die Phase der Akzeptanz beschrieben. Glücklicherweise sind wir beim Fußball. Denn da ist noch etwas Anderes: Hoffnung. Terzic bricht dieses Gefühl, das Spiel am Samstag und den Kampf um die Meisterschaft auf eine Botschaft herunter, die simpler nicht hätte sein können: "Es sind genau zwei Tore - es ist ein Tor, was eine Mannschaft kassieren muss, und es ist ein Tor, was wir erzielen müssen, um unsere Situation zu verändern. Und dafür haben wir noch 6 Spiele Zeit!“

Oder um es mit den Worten der Dortmunder Fans auf einem Spruchband im Meisterschaftsrennen 2019 zu sagen: "Es ist erst vorbei, wenn’s vorbei ist!“

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