Wie ist es um den deutschen Nachwuchs bestellt? Worauf kommt es im U-Bereich des DFB an? Und wie ticken die Spieler? Wir haben mit Ex-Nationalspieler Jens Nowotny darüber gesprochen. Er ist Assistenztrainer bei der U16.

Ein Interview

Die U16-Junioren des Deutschen Fußball-Bundes haben die Karriere von Jens Nowotny nicht erlebt, sie wurden erst danach geboren. Der frühere Abwehrstar nimmt es deshalb mit Humor, dass viele Nachwuchskicker gar nicht wissen, was für eine erfolgreiche Laufbahn er absolviert hat.

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Im Gegenteil: Nowotny macht sich hin und wieder einen Spaß daraus, wie er im Interview mit unserer Redaktion verrät. Dabei spricht er unter anderem auch darüber, wie es um den deutschen Nachwuchs bestellt ist, worauf es im U-Bereich des DFB ankommt und wie die Spieler ticken. Aktuell ist Nowotny als Assistenztrainer mit dem U16-Team bei einem Turnier in Portugal.

Jens Nowotny, Sie sind seit ein paar Jahren Assistenztrainer im Nachwuchsbereich des DFB. Wie oft fragen die Spieler nach Anekdoten aus Ihrer aktiven Zeit?

Jens Nowotny: Selten. Es passiert ab und zu, wenn sie mich gegoogelt haben - dann kommt vielleicht mal ein Kommentar. Aber grundsätzlich ist das nicht oft der Fall.

Kennen die Jungs Sie also gar nicht?

Nein, wenn sie nicht googeln, dann nicht.

Überrascht Sie das?

Nein, überhaupt nicht. Denn wenn man sich das genauer anschaut, ist es völlig logisch. Der Fußball ist so schnelllebig, es passiert permanent so viel. Dann gibt es die Highlights aus den eigenen Spielen, spektakuläre Tore, große Siege – all das prasselt auf die Jungs ein. Dazu kommt ihr eigener Karriereweg, Training, Spiele, Karriereplanung. Die haben einfach wahnsinnig viele Sachen im Kopf.

Nehmen Sie es also nicht persönlich, wenn ein 15-Jähriger nicht weiß, wen er da vor sich hat?

Nein, wir machen darüber auch gerne Späßchen. Ein Beispiel: Wir waren neulich mit der Mannschaft in Spanien, Christian Wörns war auch dabei und hat mit den Verteidigern gearbeitet. Bei einem Feedbackgespräch habe ich dann einen Spieler gefragt: ‚Und, wie fandest du das Training mit ihm?‘ Er meinte: ‚Schon cool, mal von jemandem was mitzubekommen, der wirklich hoch gespielt hat.‘ Da dachte ich mir nur: ‚Ja, genau‘. (lacht)

Welche Parallelen sehen Sie zwischen den Talenten früher und heute?

Die individuellen Qualitäten sind nach wie vor entscheidend: Passspiel, Technik, das Beherrschen von Situationen auf dem Platz. Auch die physischen Voraussetzungen – Dynamik, Athletik – sind immer noch essenziell. Taktisch hat sich das Spiel weiterentwickelt, aber es ist nicht so kompliziert, wie es manchmal dargestellt wird. Klar, das Spieltempo ist höher, die Dynamik hat zugenommen. Aber die grundlegenden Anforderungen an einen Spieler haben sich nicht groß verändert. Die Basis muss stimmen.

Die U16 gilt als Übergangsbereich, der Kader wechselt oft. Worauf kommt es in dieser Altersstufe in erster Linie an?

Die größte Herausforderung liegt darin, Talente zu erkennen und eine Vorstellung davon zu haben, wie sich ein Spieler in zwei, drei Jahren entwickeln könnte. Natürlich wäre es einfach, nur die aktuell besten Spieler mitzunehmen. Aber darum geht es nicht. Manche Jungs sind vielleicht gerade nicht die Stärksten, haben aber enormes Potenzial, das sich erst später entfaltet. Unsere Aufgabe als DFB-Trainer ist es, diese Balance zu finden: Wann setzen wir auf sofortige Leistung, wann fördern wir langfristige Entwicklung?

"In der Pubertät geht es im Kopf der Jungs oft drunter und drüber."

Jens Nowotny

Was ist Ihnen wichtig, was Sie den Jungs sportlich mit auf den Weg geben möchten?

Mir geht es darum, den Spielern zu vermitteln, dass Disziplin in vielen Bereichen mindestens genauso entscheidend sein kann wie Talent. Talentiert sind viele – aber Disziplin und harte Arbeit schlagen Talent, wenn Talent nicht hart arbeitet. Genauso wichtig sind jedoch auch die sogenannten Soft Skills – charakterliche Eigenschaften wie Demut, Teamfähigkeit oder Selbstreflexion. Ein weiterer Punkt, den wir immer wieder betonen: Schule ist essenziell. Denn nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Spieler schafft es am Ende wirklich in den Profifußball. Deshalb muss ein Bewusstsein dafür geschärft werden, dass die Jungs ein Augenmerk darauf legen.

Wie geht man als DFB-Trainer am besten mit 14- bis 15-Jährigen um, die mitten in der Pubertät stecken?

In der Pubertät geht es im Kopf der Jungs oft drunter und drüber. Deshalb gehört es für uns Trainer auch dazu, Verständnis für diese Phase zu haben, ihnen Orientierung zu geben und in manchen Momenten auch mal Nachsicht zu zeigen. Es gibt zwei Aspekte: Zum einen geht es um die Leistungsschwankungen auf dem Platz. Es ist völlig normal, dass junge Spieler in ihrer Entwicklung nicht konstant auf demselben Niveau spielen. Zum anderen geht es um das Verhalten neben dem Platz. Solange niemand zu Schaden kommt und das Image eines Vereins oder des DFB nicht beschädigt wird, kann man auch mal mit einem Augenzwinkern an die eigene Jugendzeit zurückdenken. Trotzdem braucht es klare Grenzen.

Nehmen die Spieler diese Ratschläge und Grenzen an?

Ja, die große Mehrheit nimmt das an und setzt es auch um. Natürlich gibt es immer wieder Jungs, die mal über die Stränge schlagen – das ist in dem Alter völlig normal. In jeder Schulklasse gibt es den Klassenclown, die Streber und die breite Masse dazwischen. Warum sollte es im Fußball anders sein? Aber ein paar wenige erreicht man einfach nicht. Für diese Spieler wird der Aufprall dann umso härter, wenn sie merken, dass es allein mit Talent nicht reicht.

Oft heißt es, die heutige Generation sei verwöhnt oder verweichlicht. Wie erleben Sie das?

Die Spieler, die bei uns im engeren Kreis landen, haben sich diesen Platz hart erarbeitet. Sie wissen längst, dass sie nur mit einem klaren Fokus auf ihr Ziel weiterkommen. Ein 15- oder 16-Jähriger, der sechsmal pro Woche trainiert, am Wochenende spielt, zur Schule geht und vielleicht sogar noch Nachhilfe oder andere Verpflichtungen hat – das geht nicht ohne Disziplin und Durchhaltevermögen.

Wie unterscheiden sich die Juniorenspieler von heute im Vergleich zu früher?

Manchmal hat man das Gefühl, sie sind ein bisschen zu verkopft, zu engstirnig. Sie werden im Leistungszentrum oder auch bei uns dazu gedrillt, nur noch mit Scheuklappen herumzulaufen. Alles, was links und rechts passiert, wird entweder überbewertet oder völlig ausgeblendet. Der Fokus liegt heute viel stärker auf dem Fußball als früher. Ich konnte als Jugendspieler regelmäßig Zeit mit meinen Kumpels verbringen, auch mal rausgehen, einfach mal abschalten. Das fehlt heutzutage oft. Es wirkt, als gäbe es nur noch zwei Extreme: Entweder alles oder gar nichts.

"In Zeiten von Social Media wird jeder kleine Fehltritt sofort publik."

Jens Nowotny

Heißt: Ein bisschen mehr Party würde dem Nachwuchs durchaus guttun?

Natürlich geht es nicht darum, über die Stränge zu schlagen. Aber es gehört doch auch dazu, mal Teenager zu sein. Heute ist die Angst, dabei erwischt zu werden, einfach viel größer. In Zeiten von Social Media wird jeder kleine Fehltritt sofort publik. Diese ständige Beobachtung führt dazu, dass sich viele Jungs und Mädels gar nicht mehr trauen, das Leben außerhalb des Fußballs zu genießen.

Ist Social Media das größte Problem für junge Talente?

Es kann einen negativen Einfluss haben – wenn man sich zu sehr davon leiten lässt. Natürlich kann Social Media auch pushen, es gibt durchaus Spieler, die daraus Motivation ziehen. Aber was man weiß: Die negativen Kommentare überwiegen. Damit umzugehen, ist für junge Spieler enorm schwierig.

Gibt es noch andere problematische Entwicklungen?

Ja, es beginnt alles immer früher. Ich war selbst Profi und habe Geld damit verdient. Aber wenn 15-, 16- oder 17-Jährige bereits mehrere tausend Euro im Monat verdienen, verändert das vieles. Das beeinflusst nicht nur die Jungs selbst, sondern auch ihr Umfeld, ihre Familie, ihren gesamten Umgang mit Geld und Verantwortung. Diese Spirale wird sich weiterdrehen. Umso wichtiger ist es, frühzeitig gegenzusteuern. Dankbarkeit und Demut dürfen nicht verloren gehen. Wer in diesem Alter bereits finanziell abgesichert ist, muss sich trotzdem bewusst sein, dass nichts selbstverständlich ist.

Erleben Sie die heutigen Talente denn als demütig?

Viele sind es, sie haben eine gesunde Einstellung. Aber es gibt auch diejenigen, bei denen man merkt: Die sehen ihren eigenen Weg ganz anders. Ich glaube fest daran, dass Werte, die vom Trainerteam und den Leistungszentren vorgelebt und eingefordert werden, positive Auswirkungen haben. Wer Respekt zeigt, wer sich bewusst macht, welche Chance er bekommt, der hat es am Ende vielleicht auch leichter, mit den Herausforderungen dieses Geschäfts umzugehen.

Gibt es Spieler aus Ihrem Jahrgang, die besonders hervorstechen? Oder halten Sie sich mit Prognosen lieber noch zurück?

In dem Bereich halte ich mich noch zurück. Alles, was man jetzt sagt, ist letztlich nur eine Wette auf die Zukunft oder ein Wunschgedanke. In diesem Alter passiert noch so viel – körperlich, mental, in der Entwicklung auf und neben dem Platz. Innerhalb weniger Monate können sich Karrieren komplett drehen.

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Wie oft erfüllen Talente die Erwartungen, die sie wecken?

Wenn ein Spieler erst einmal beim DFB angekommen ist und sich zwei, drei Jahre in den Jugendnationalmannschaften hält, ist die Wahrscheinlichkeit relativ hoch, dass er es in den Profibereich schaffen kann. Doch es hängt auch davon ab, in welchem Verein er spielt. Du brauchst das richtige Timing, musst im richtigen Moment deine Leistung abrufen – und dann auch noch das nötige Glück haben. Deshalb würde ich mir niemals anmaßen, bei einer U16 zu sagen: "Der oder der wird ganz sicher Profi."

Wo steht Deutschland im internationalen Vergleich in der Nachwuchsarbeit?

Der Fokus in der Ausbildung verschiebt sich immer wieder. Eine Zeit lang wurde die taktische Schulung der Spieler stark forciert – teilweise vielleicht sogar überstrapaziert. Jetzt liegt die Aufmerksamkeit wieder mehr auf der individuellen Qualität. Es gibt immer Phasen, in denen Nationen aufholen oder einen Vorsprung haben. Es gibt keine Konstante, keine ewige Vormachtstellung. Das Entscheidende ist, sich ständig weiterzuentwickeln – nicht den Fußball selbst, aber die Art und Weise, wie wir ihn vermitteln. Und da sind wir auf einem sehr guten Weg.

Müssen wir uns um den deutschen Fußball-Nachwuchs also keine Sorgen machen?

Nein, definitiv nicht. Ich bin fest davon überzeugt, dass Deutschland auch in den kommenden Jahren immer eine schlagkräftige Nationalmannschaft haben wird – eine Mannschaft, die in der Lage ist, bei großen Turnieren um den Titel mitzuspielen.

Über den Gesprächspartner

  • Jens Nowotny war von 1992 bis 2007 Profi beim Karlsruher SC, Bayer Leverkusen und Dinamo Zagreb. In der Zeit absolvierte der frühere Abwehrspieler unter anderem 334 Spiele in der Bundesliga, dazu 48 Partien für die deutsche Nationalmannschaft. Seit 2021 arbeitet er als Assistenztrainer im Juniorenbereich des DFB, aktuell bei der U 16.
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