Aracataca - Zeitlebens wehrte sich Gabriel García Márquez gegen eine Verfilmung seines Bestsellerromans "Hundert Jahre Einsamkeit". Sein epochales Meisterwerk, von dem weltweit über 50 Millionen Exemplare verkauft wurden, sei einfach zu komplex für eine Verfilmung, meinte "Gabo".
Nach seinem Tod 2014 konnte der Streamingdienst Netflix jedoch dessen Kinder überzeugen und die Filmrechte erwerben. Am 11. Dezember geht die erste Hälfte der 16-teiligen Miniserie online. Ob sie der Literaturvorlage gerecht wird, bleibt abzuwarten.
Der 1967 erschienene Roman, der vom Schicksal der Familie Buendía und des von ihr gegründeten Dorfes Macondo über einen Zeitraum von 100 Jahren erzählt, ist ein vielschichtiges Werk, in dem sich wahre Geschehnisse aus der kolumbianischen Geschichte mit surrealen und fantastischen Begebenheiten mischen. Der Roman gilt heute als Musterbeispiel für den literarischen Stil des "magischen Realismus".
Wer ihn in seiner ganzen Dimension verstehen möchte, muss die Menschen, ihr Lebensgefühl, die Traditionen, die Symbole und die Kultur in Gabos karibischer Heimatregion im Norden Kolumbiens kennenlernen, findet Melquín Merchán. Vor allem Aracataca, wo der spätere Schriftsteller am 6. März 1927 geboren wurde und seine Kindheit verbrachte, sagt der 27-jährige Künstler aus Aracataca.
Besuch im Geburtshaus
Im Museum des ehemaligen Telegrafenamtes, wo García Márquez' Vater früher arbeitete, stellt Merchán seine Gemälde aus, die teils in Szenen und Charakteren aus "Hundert Jahre Einsamkeit" inspiriert sind. "Ich versuche zu malen, wie Gabo schrieb. Seine Erzählweise, das ständige Vermischen von Realem und Surrealem, ähnelt sehr den Geschichten, die uns unsere Großeltern erzählten", sagt Merchán.
Aracataca, das sich am Rande von Bananenplantagen und den Gebirgszügen der Sierra Nevada de Santa Marta im schwülen Hinterland der Karibikküste befindet, ist zwar keine koloniale Perle. Doch es ist Gabos Heimat und laut vieler Experten die Vorlage für das magische Macondo.
In Aracataca kann man sein Geburtshaus besuchen, die Kirche, in der er getauft wurde, seine alte Schule, wo er schreiben und lesen lernte. "Nahezu mein gesamtes Werk wurde von den ersten Jahren meiner Kindheit beeinflusst", sagte García Márquez selbst einmal. Auch den Namen "Macondo" entlehnte er einer nahen Bananenfinca.
Aber Gabo stellte auch immer klar, dass Macondo ein fiktiver Ort sei. Macondo ist in der kolumbianischen Karibikregion an vielen Orten zu finden, und Gabo benutzte sie für Szenen und Begebenheiten seines Meisterwerks. Wer Santa Cruz de Mompox sieht, fühlt sich sofort an Macondo erinnert. In der idyllisch am Magdalena Fluss gelegenen Kleinstadt scheint die Zeit stehengeblieben zu sein.
Juwel spanischer Kolonialarchitektur
Wie das fiktive Macondo ist auch Mompox umgeben von Sümpfen und war über Jahrzehnte isoliert, wodurch die Ortschaft bis heute ein Juwel spanischer Kolonialarchitektur geblieben ist. Sie wurde 1995 zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt. Ein Großteil der seit 1540 errichteten Altstadt wird noch in ihrer Ursprungsfunktion genutzt.
Zur Kolonialzeit war Mompox ein wichtiger Umschlagplatz für Gold aus Südamerika. Noch heute gehen zahlreiche Gold- und Silberschmieden der traditionellen Filigrankunst nach. Aus Mompox stammen auch die durch "Hundert Jahre Einsamkeit" weltberühmten Goldfisch-Amulette.
Die Romanfigur Oberst Aureliano stellte sie her und vernichtete sie sofort wieder, nur um erneut anzufangen und sich dadurch nicht seiner Einsamkeit bewusst zu werden. Gabo benutzte sie als Metapher für einen Schrei der Einsamkeit. Er kannte die Goldfische und Mompox durch seine Frau Mercedes Barcha, die hier auf eine Klosterschule ging.
Es war der Goldschmied Luis Guillermo Trespalacios, der die Goldfisch-Amulette in den 1950er-Jahren erfand. Stolz zeigt seine Tochter Flor heute Besuchern ihres kleinen Museums die ersten Ausgaben und Arbeitsgeräte ihres Vaters. Die Traditionen des Ortes und sein historischer Charme inspirierten García Márquez auch als Kulisse für sein berühmtes Werk "Chronik eines angekündigten Todes".
Für andere wiederum ist die koloniale Küstenstadt Ciénaga das wahre Macondo. Was sicher ist: Gabo verarbeitete in seinem Roman das sogenannte Bananenmassaker, das hier 1928 von der Regierung und der amerikanischen United Fruit Company an streikenden Arbeitern der Bananenplantagen verübt wurde.
Schwimmendes Venedig
Von Ciénaga geht es mit einem Boot durch die angrenzenden Sumpfgebiete der gleichnamigen Küstenlagunen, die Gabo auch in "Hundert Jahre Einsamkeit" erwähnt. Mitten in diesem Labyrinth aus Mangrovenwäldern und Lagunen befindet sich das schwimmende Dorf Nueva Venecia – das "Neue Venedig". Ein magischer, faszinierender Ort.
Die Menschen leben vom Fischfang. Ihre bunten Holzhäuser sind auf Pfählen gebaut. Straßen gibt es nicht. Man kann sich nur mit Booten fortbewegen. Die Menschen sind arm, doch ihre Lebensfreude und Gastfreundlichkeit sind überwältigend.
Als es Nacht wird, unterbrechen karibische Trommelgeräusche und Waschbrettinstrumente die Stille im Dorf. Kein Fest, sondern ein Exorzismus eines angeblich besessenen Mädchens findet statt. Hexen, Dämonen, Aberglauben – eine fantastisch-surreale Welt vermischt sich mit der realen – ganz wie in Gabos "magischem Realismus".
Auf der anderen Lagunenseite befindet sich die Küstenstadt Barranquilla. Hier verbrachte der Schriftsteller seine Jugend- und Lehrjahre als Journalist beim "El Heraldo". Barranquilla war damals eine junge, wilde und zügellose Industriestadt. Und auch heute ist sie noch Kolumbiens Musik- und Karnevalshochburg. Gabo schloss sich hier mit 22 Jahren einer Gruppe junger Intellektueller an, die ihn literarisch-kreativ beeinflussten.
Gabos alte Schreibmaschine
Im letzten Teil seines Weltromans verwandelt sich Macondo in eine Stadt, in der Aureliano Babilonia lebt, einer der letzten der Familie Buendías. Aureliano trifft sich jeden Nachmittag mit Álvaro, Germán, Alfonso und Gabriel. Eine klare Anspielung an Barranquilla und die Künstlergruppe, die sich regelmäßig im Restaurant "La Cueva" traf, in dem noch heute alte Fotos von ihr hängen und Gabos alte Schreibmaschine steht.
Das unweite Cartagena de Indias diente Gabo zwar mehr als Bühne für "Liebe in den Zeiten der Cholera". Doch auch die Küstenmetropole, in der er seine letzten Jahre in Kolumbien verbrachte, ist in vielen Details aus "Hundert Jahre Einsamkeit" wiederzufinden.
Das karibische Flair, die pastellfarbenen Kolonialhäuser mit blumengeschmückten Holzbalkonen, verträumte Innenhöfe - Cartagenas quirlige Altstadt verzauberte García Márquez von Beginn an. "Die Stadt beeinflusste sein Werk wie kein anderer Ort auf der Welt", versichert Orlando Oliveros von Gabos "Stiftung Neuer Iberoamerikanischer Journalismus".
So wollte der in Mexiko verstorbene Gabriel García Márquez auch, dass ein Teil seiner Asche in Cartagena beigesetzt wird. Sie liegt unter seiner Büste im Innenhof des ehemaligen Klosters La Merced, heute ein Universitätsgebäude. Doch Macondo bleibt fiktiv, ist aber überall und in uns selbst, wie die Menschen in der kolumbianischen Karibik sagen.
Links, Tipps, Praktisches:
Reiseziel: Kolumbien liegt im Norden Südamerikas. Der Roman "Hundert Jahre Einsamkeit" spielt an der Karibikküste des Landes.
Beste Reisezeit: Für Aufenthalte an Kolumbiens Karibik bietet sich die Trockenzeit von Dezember bis April an.
Anreise: Mehrere Airlines fliegen von Deutschland aus direkt nach Bogotá. Dort steigt man mit Ziel Cartagena de Indias um.
Einreise: Für die Einreise ist kein Visum, aber ein noch sechs Monate gültiger Reisepass nötig.
Gesundheitshinweise: Reiseimpfungen sind nicht vorgeschrieben. Es werden laut Auswärtigem Amt aber Impfungen gegen Gelbfieber, wenn Gebiete unterhalb von 2.300 Metern bereist werden, sowie gegen Hepatitis A empfohlen.
Unterwegs: Agenturen wie Impulse Travel oder Dorado Experiences bieten Touren und Reisen auf den Spuren von García Márquez durch die Karibik an.
Währung: 1 Euro entspricht 4.694 Kolumbianischen Peso (COP); (Stand: 4.12.2024)
Zeitverschiebung: Von Oktober bis März ist Kolumbien sechs Stunden hinter Deutschland, zwischen März und Oktober sieben Stunden.
Weitere Auskünfte: colombia.travel/de © Deutsche Presse-Agentur
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