Wenn sich die Eltern trennen, bricht für ein Kind meist eine Welt zusammen. Manche Eltern machen alles noch viel schlimmer: Sie bringen das Kind dazu, den anderen Elternteil zu hassen und nie wieder sehen zu wollen. So gefährlich sind die Folgen dieser sogenannten Eltern-Kind-Entfremdung.
Für manche Eltern ist die Coronakrise eine willkommene Gelegenheit. Etwa für solche, die unter dem Vorwand "Corona" dem Ex-Partner den Umgang mit den gemeinsamen Kindern komplett verweigern.
Andere änderten eigenmächtig die Vereinbarungen, meldet der Interessenverband Unterhalt und Familienrecht in Nürnberg. Zahlreiche Anrufe verunsicherter Eltern gehen derzeit dort ein. Dabei ist die Regel klar: Elternteile, die ein Sorgerecht für ihre Kinder haben, dürfen diese besuchen.
Eltern manipulieren ihre Kinder
Was hier zutage tritt, ist auch jenseits von Corona keine Seltenheit: dass ein Elternteil den Kontakt des Kindes zum anderen Elternteil unterbinden will. Und noch schlimmer: "Es gibt Eltern, das erleben wir leider Gottes immer häufiger, die ihre Kinder gezielt manipulieren, bis diese nichts mehr mit dem anderen Elternteil zu tun haben wollen", erklärt Jürgen Rudolph, ehemaliger Familienrichter und heute Rechtsanwalt.
Dieses Phänomen hat einen Namen: Wenn die einstige Liebe des Kindes zu einem Elternteil auf Betreiben des anderen Elternteils hin in Ablehnung oder Hass umschlägt, ist von einer Eltern-Kind-Entfremdung die Rede.
"Es sind viel zu viele Menschen, die in ihrer Kindheit davon betroffen sind", bedauert Rudolph, der 30 Jahre als Familienrichter arbeitete und die Eltern-Kind-Entfremdung als Teil seiner täglichen Arbeit erlebte. "Und es sind sowohl Mütter wie Väter, die entfremden."
In der Praxis sei die Zahl der Mütter zwar deutlich größer. Das sei jedoch darauf zurückzuführen, dass der Entfremder fast immer das Elternteil sei, bei dem das Kind lebt. "Wer den Zugriff hat, hat die Macht", sagt Rudolph. Und das ist laut der Studie "Getrennt gemeinsam erziehen" meistens die Mutter:
- Mehr als 3,7 Millionen Kinder und Erwachsene in Deutschland leben bei einem alleinerziehenden Elternteil, in 84 Prozent der Fälle bei der Mutter.
So häufig hat ein Elternteil nach der Trennung keinen Kontakt zum Kind:
- Väter: 18 Prozent
- Mütter: 3 Prozent
Filmreifer Stoff
Rudolph agierte kürzlich als juristischer Fachberater für den ARD-Film "Weil du mir gehörst", der genau dieses Thema der Eltern-Kind-Entfremdung auf packende Weise aufgreift.
In einer der ersten Szenen spricht die kleine Anni mit dem Richter über ihren Vater: "Ich habe Angst vor ihm. Er ist jähzornig, stur und egoistisch, das weiß ich genau. Und er schlägt die Mama und mich auch. Ich hasse ihn. Ich will meinen Vater nicht mehr sehen - nie mehr, Ich wünschte, er wäre tot. Wenn Sie jetzt bestimmen, dass ich wieder zu ihm muss, bringe ich mich um."
In der Rückblende erlebt der Zuschauer anschließend, wie unbeschwert ihre Liebe zum Vater noch ein Jahr zuvor war - und wie es der Mutter auf perfide Weise gelang, dem Mädchen den Vater systematisch zu entfremden. Mit zahllosen Lügen, Intrigen und sogar einem Umzug, von dem der Vater nichts erfahren sollte. Wo Filme meist übertreiben, ist das nach Rudolphs Erfahrung hier nicht der Fall: "Dieser Streifen ist wie eine Blaupause."
Rache und Angst als häufige Motive
Warum Eltern so etwas tun, erläuterte der Psychologe Stefan Rücker im TV-Talk zum Film: "Eltern, die hoch konfliktreich miteinander umgehen, verlieren schnell das Wohl des Kindes aus den Augen."
Mögliche Motive des Entfremders seien:
- Angst: "Man hat bereits den Partner verloren und befürchtet, nun auch noch das Kind zu verlieren."
- Rache: "Ich zahle es dir heim und mache die schmalen Schultern unserer gemeinsamen Kinder zum Austragungsort unseres Rosenkrieges. Ich will den Sieg davontragen, notfalls auf dem eigenen Trümmerfeld", fasst Rücker zusammen und ergänzt: "Die gleichen Eltern beschwören aber auch, dass sie alles für ihre Kinder tun."
Häufig seien bei den Entfremdern auch narzisstische Persönlichkeitsanteile oder Borderline-Erkrankungen zu beobachten.
Die Entfremdung vollziehe sich dann über verschiedene Stufen. "Am Anfang steht das tiefe Begehren, den anderen Elternteil irgendwie aus diesem Familienverbund auszuschließen", erklärt er. Weil das aber moralisch verwerflich sei, gerieten Entfremder in einen inneren Spannungszustand: "Um diese Spannung für mich aufzulösen, suche ich im zweiten Schritt nach Gründen, warum es richtig und wichtig ist, den anderen Elternteil auszuschließen. Da wird die Vergangenheit verzerrt, und am Ende glaubt der Entfremder selbst an diese konstruierten Gründe."
Verheerende Schäden für die Psyche des Kindes
Scharf abzugrenzen ist die Eltern-Kind-Entfremdung von Fällen, in denen der Kontaktabbruch triftige Gründe hat, wie etwa Gewalt gegen das Kind. Wo aber ein Elternteil letztlich grundlos den Ex-Partner aus dem Leben des Kindes verdammt, wirkt sich das fatal auf die psychische Gesundheit des Kindes aus.
Der amerikanische Kinder- und Jugendpsychologe Richard Gardner beschrieb dies in den 1980ern als "Parental Alienation Syndrome" (elterliches Entfremdungssyndrom), kurz PAS.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nahm PAS zwar nicht als Krankheit in ihren diagnostischen und statistischen Leitfaden für psychische Störungen auf. Unumstritten ist aber, dass es diese Eltern-Kind-Entfremdung gibt. Rücker nennt sie "ein Verbrechen an der Seele von Schutzbefohlenen" und zählt einige mögliche Folgen auf:
- Traumatisierung
- Störungen im Sozialverhalten
- Depressionen
- Angst, Panikattacken
- Selbstverletzendes Verhalten
- Suizidwünsche
- Essstörungen
- Beziehungsstörungen im Erwachsenenalter
"Die Störungen dauern vielfach über die gesamte Lebensspanne an, das muss man sehr ernst nehmen", sagt er. Im Gegensatz zu Jungen, bei denen der Hilfebedarf öfter bemerkt würde, leiden Mädchen eher nach innen: "Eltern sind dann in der Annahme, dass das Kind die Trennung oder gar Entfremdung ganz gut verwindet." Dass dies nicht der Fall sei, zeige sich beispielsweise an Symptomen wie Bauch- oder Kopfschmerzen, die das Umfeld aber oft falsch deute.
Je länger die psychische Störung andauere, desto schwieriger sei es, den Leidensdruck therapeutisch zu vermindern: "Es muss also früh geschehen."
Frühe Intervention könnte vieles verhindern
Früher eingreifen: Das war auch immer Rudolphs Ziel, der die Gerichtsstrukturen und die damit verbundene Hilflosigkeit des Systems anprangert.
16 Jahre lang erprobte und etablierte er ab 1992 im sogenannten "Cochemer Modell" am Amtsgericht eine neue Zusammenarbeit: Richter, Mitarbeiter von Jugendämtern und Beratungsstellen, Psychologen und auch Anwälte vernetzten sich hier zu einer Kooperation, die ein Ziel hatte: "Das Wohl des Kindes - Eskalation und Streit vermeiden, damit dem Kind zu beiden Elternteilen eine gesunde Beziehung ermöglicht ist", fasst Rudolph zusammen.
Dazu mussten sich die Eltern an einen Tisch setzen. "Wir führten ihnen auch vor Augen, was sie erwartet, wenn sie zu keiner Lösung kommen: Gerichtsverfahren bis zur Volljährigkeit des Kindes, viel Kummer - und das Kind wird auch nicht immer ihr Eigentum sein, wie sie vielleicht im Moment denken. Nach den ersten intensiven Emotionen aufgrund der Trennung waren viele hier bald zu konstruktiven Gesprächen bereit, die Kampfsituationen nahmen deutlich ab", erinnert er sich.
Zudem wurde möglichst sofort interveniert - nicht erst nach Gutachten, die den Richtern teilweise erst nach Monaten verfügbar sind, wo etwa eine Eltern-Kind-Entfremdung schon längst viel zu weit fortgeschritten ist.
Nachdem er in den Ruhestand ging, lief das Modell jedoch aus, was Rudolph zutiefst bedauert. "Familien werden im Stich gelassen und das Kind leidet ganz besonders darunter."
Ein Beispiel: "Die Sachverständigen arbeiten nach keinen einheitlichen Standards. Letztlich empfehlen sie sehr häufig - wie im Film 'Weil du mir gehörst' - alles so zu lassen, wie es ist. Die Begründung: Man müsse 'Ruhe reinbringen' in das Leben des Kindes. Sie stellen hier aber Weichen für Lebenswege - des Kindes, aber auch der Eltern. Der Richter beruft sich dann in seiner fatalen Entscheidung auf das Gutachten - der Gutachter aber sagt am Ende, er habe ja nicht das Urteil gefällt. Die Verantwortlichkeiten verflüchtigen sich."
Juristische Ausbildung alleine reicht nicht
Auch müssten aus Rudolphs Sicht sämtliche Professionen, die mit Familienkonflikten befasst sind, über Grundkriterien aus der Erfahrung der Familienpsychologie informiert werden. Also Familienrichter und -anwälte, Jugendämter und Beratungsstellen, forensische Sachverständige.
"In den ersten Jahren meiner richterlichen Tätigkeit hätte ich an Annis Worten nicht erkannt, dass hier eine eindeutige Eltern-Kind-Entfremdung vorliegt", sagt er.
Typische Anzeichen seien:
- Betroffene Kinder übernehmen die Worte der Mutter bzw. des Vaters, sprechen nicht altersgemäß.
- Die Begründungen sind irrational - die Kinder können gar nicht genau benennen, warum sie den Vater/die Mutter nicht mehr sehen möchten. "Darum", lautet dann oft die Antwort.
- Das Kind nennt Argumente, die es übernommen hat, zum Beispiel: "Mein Vater war nicht mal bei meiner Geburt dabei."
Dass der Entfremder aus Bösartigkeit handelte, glaubte Rudolph in den allermeisten Fällen, die er miterlebte, übrigens nicht: "Sie sind tatsächlich überzeugt, dass sie das Richtige tun." Für umso größer hält er daher die Chance, den Blick solcher Eltern auf das wahre Wohl des Kindes zu lenken: "Doch dies funktioniert eben nur, wenn die dafür vorgesehenen Institutionen und Berater ganz früh intervenieren."
Verwendete Quellen:
- Talk zum Film "Weil du mir gehörst" - Das Erste
- dpa
- "Getrennt gemeinsam erziehen": Allensbach-Befragung im Auftrag des Bundesfamilienministeriums
Info:
- Der Verein Elternfrieden bietet betroffenen Eltern und Kindern deutschlandweit kostenlose Beratung zum Thema Eltern-Kind-Entfremdung an.
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