Welche Gefühle erleben Kinder beim Heranwachsen? Und wie erleben umgekehrt die Eltern Trotz- und Wutausbrüche ihrer Kleinen? Der Autor und Pädagoge Matthias Jung klärt diese Fragen und erklärt auch, welche Rolle Humor in der Kindererziehung spielt. Denn sein Grundsatz lautet: "Besser gemeinsam gelacht, als alleine verzweifelt."

Ein Interview

Eltern stehen im Laufe des Heranwachsens ihrer Kinder vor verschiedenen Herausforderungen – welche Gefühle erleben aber die Kleinen in den unterschiedlichen Entwicklungsphasen?

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Matthias Jung: Es sind große Gefühle, die die Kinder erleben. Im Alter von etwa eineinhalb bis zwei Jahren beginnen sie, sich kennenzulernen. Insofern finden in der Trotz- und Autonomiephase erste Versuche statt, sich langsam aus der Deckung der Eltern herauszubewegen. Die Ich-Entwicklung in Form vieler "Ich"-Sätze beginnt, infolgedessen viele und große Gefühle entstehen. Diese Gefühle überraschen die Kleinen, werden aber ebenso als etwas Tolles wahrgenommen – so anstrengend das an mancher Stelle auch für die Großen sein kann (lacht). Die Gefühle, die Kinder zu den jeweiligen Themen, die ihnen begegnen, empfinden, machen sie letztlich einzigartig.

Welche Rolle spielen die Eltern während dieser Entwicklung?

Eltern sind live dabei und tragen gewissermaßen ein VIP-Bändchen, das es ihnen ermöglicht, all diese Gefühle hautnah mitzuerleben – mit allen schönen, aber auch herausfordernden Momenten. Ich erinnere mich etwa an ein Erlebnis mit meiner Tochter, die morgens um 8:30 Uhr in der Kita sein sollte. Natürlich gab es den einen oder anderen Morgen, an denen es zeitlich knapp wurde. Und so kam es, dass ich, an einem Morgen, an dem es wieder einmal knapp war, ihr die in ihrer Wahrnehmung falschen Schuhe hinstellte. Ein Riesendrama! Das Ganze endete damit, dass sie in ihr Zimmer zurückging, sich wieder auszog und sich weigerte, in die Kita zu gehen.

"Kleine Kinder können noch nicht zwischen einem Perspektivwechsel unterscheiden und nehmen zunächst an, Erwachsene könnten all ihre Gedanken lesen."

Matthias Jung, Pädagoge

Als Elternteil ist man in so einer Situation erst einmal hilflos. Auf der anderen Seite müssen wir Erwachsenen verstehen, dass sich die Kinder besser kennenlernen und ihre Wut ins Freie lassen. Kleine Kinder können noch nicht zwischen einem Perspektivwechsel unterscheiden und nehmen zunächst an, Erwachsene könnten all ihre Gedanken lesen – insofern konnte meine Tochter in jener Situation schlichtweg nicht nachempfinden, warum ich ihr die "falschen" Schuhe hingestellt habe. Hinzu kommt die mangelnde Impulskontrolle, die die Kleinen dann auch mal lauter oder impulsiver werden lässt.

Sie sagten, Eltern fühlen sich manchmal hilflos. Welche weiteren Gefühle durchleben sie während der Autonomiephase ihres Kindes?

Denken wir etwa an den typischen Wutausbruch eines Kindes im Supermarkt, wünschen sich viele Eltern zunächst einmal, im Boden versinken zu können. Diese Situation beschreibe ich auch in meinem Buch "Immer darf ich alles nie!". Hier war mir wichtig, vor allem die anderen Supermarktkunden zu beleuchten. Als betroffener Elternteil denkt man schnell, alle Blicke seien auf sich und den Wutanfall des Kindes gerichtet, doch so ist es nicht. Natürlich bekommen die Menschen um Eltern und ihr Kind die meist lautstarke Situation mit, doch in der Regel haben sie viel zu viel mit sich selbst zu tun. Dieses Wissen kann Eltern helfen, bei sich zu bleiben und sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Insofern lassen sich die Atemübungen aus dem Geburtsvorbereitungskurs auch in solchen Situationen noch wunderbar anwenden (lacht).

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Doch auch wenn Eltern die Ruhe bewahren, bleiben sie zunächst einmal hilflos. Denn das Gehirn befeuert die Kinder während eines Wut- oder Trotzanfalls mit so vielen Emotionen, dass sie diese noch nicht regulieren können. Und so sind wir als Eltern manchmal auch nur der Rückenstreichler. Denn letztlich geht es darum, dem Kind zu zeigen, nicht alleine zu sein und alle Gefühle ausleben zu dürfen – auch wenn all das für sie manchmal in einer unangenehmen Situation stattfindet.

In Ihrem Buch geben Sie aufmunternd, aber auch augenzwinkernd Hilfestellung bei elterlichen Sorgen. Welche Rolle spielt Humor in der Kindererziehung?

Eine sehr große. Als Autor möchte ich meine Bücher natürlich pädagogisch wertvoll und mit der Schilderung verschiedener Alltagssituationen gestalten. Trotzdem möchte ich aber auch, dass meine Bücher humorvoll sind. Humor hat immer etwas Verbindendes und mein Grundsatz lautet "Besser gemeinsam gelacht, als alleine verzweifelt". Umso schöner ist es, wenn Eltern merken, mit ihren Problemen nicht alleine zu sein. Viele Eltern wollen perfekt sein. Doch manchmal greift auch das olympische Motto "Dabei sein ist alles", denn Kindererziehung lässt sich nicht perfekt vorbereiten. Es muss nicht immer der Anspruch herrschen, das Kind perfekt zu entertainen – manchmal reicht es auch vollkommen aus, sich gemeinsam auf die Couch zu kuscheln und eine schöne Zeit miteinander zu erleben. Eltern müssen keine Eventmanager sein. Es braucht keine Bilderbucheltern, sondern Wimmelbucheltern, die lebendig sind, mit all ihren Fehlern – und der Fähigkeit, auch über sich selbst lachen zu können.

Wenn es einmal mit der humorvollen Begleitung eines kindlichen Wutanfalls nicht klappen will: Wie sollten Eltern mit ihrer eigenen Wut umgehen?

Zunächst sollten Eltern ihre Situation annehmen. Dazu gehört auch, ganz nüchtern zu analysieren, dass der Tag für die sprichwörtliche Tonne war. Doch morgen ist ein neuer Tag, der natürlich genauso herausfordernd ablaufen kann. Man sollte sich also selbst nicht unter Druck setzen, sondern die aktuelle Phase vielmehr annehmen. Natürlich hilft es auch, Hilfe anzunehmen, das berühmte Dorf mit einzubeziehen und sich selbst, sofern möglich, etwas Gutes zu tun. Unsere Wut hat drei Ecken: die Wut des Kindes, den akuten Moment, in dem unsere Wut aufkommt und unser inneres Kind, das durch eine herausfordernde Situation getriggert wird. Insofern führt uns das Leben mit Kindern auch wunderbar vor Augen, dass wir hier und da genauer auf uns und unsere Gefühle schauen dürfen, um Gefühle aus der eigenen Kindheit zu verarbeiten.

"Dem Kind kann es nur gut gehen, wenn es auch den Eltern gut geht."

Matthias Jung

In der Kindererziehung spielt der bedürfnisorientierte Ansatz eine große Rolle. Gibt es bei dieser Form der Erziehung Stolpersteine für Eltern?

Hier spielt die Interpretation von bedürfnisorientierter Erziehung eine große Rolle, denn viele Eltern verstehen unter diesem Erziehungsmodell, ihren Kindern alles abnehmen zu müssen. Dabei geraten die eigenen Bedürfnisse häufig in den Hintergrund. Doch dem Kind kann es nur gut gehen, wenn es auch den Eltern gut geht, insofern sprechen wir hier von einem häufigen Missverständnis der bedürfnisorientierten Erziehung. Es geht nicht darum, dem Kind ständig den roten Teppich aufzurollen, sondern in bestimmten Situationen Verantwortung und Führung zu übernehmen. Besonders wichtig bleibt hierbei weiterhin, sich von dem Drang nach Perfektion zu lösen. Denn wir sind keine bedürfnisorientierten Vollautomaten, die alles richtig machen. Wir bleiben Menschen, mit all unseren Fehlern, Emotionen und eigenen Bedürfnissen. Und eben diese elterlichen Bedürfnisse dürfen auch einem Kind transparent vermittelt werden.

Eltern erleben oft einen Generationenkonflikt, wenn die autoritär geprägte Generation bei bedürfnisorientierter Erziehung das vermeintliche Fehlen von Grenzen bemängelt. Wie stehen Sie zu dieser Kritik?

Eltern sollen ihren Kindern in erster Linie Verlässlichkeit und einen sicheren Hafen bieten, in dem sie durch Ausprobieren die eigenen Grenzen erforschen können. Trotzdem behalten Eltern die Verantwortung, in manchen Situationen einzugreifen und die Führung zu übernehmen. Heißt: Es werden Grenzen gesetzt. Werden keine Grenzen gesetzt, kann für die Kinder kein Wir-Gefühl entstehen und sie wachsen Ich-bezogen auf. Nimmt ein Kind jedoch nur autoritäre Befehle auf, fühlt es sich unterdrückt, insofern spielt das Wir-Gefühl in der sozialen Wahrnehmung des Kindes eine große Rolle. Beim Setzen von Grenzen ist demnach vor allem die von den Eltern gegebene Orientierung von Bedeutung.

Vor allem in den sozialen Medien wird häufig ein vermeintlich perfektes Bild von Familienleben gezeichnet, das Eltern im realen Leben unter Druck setzen kann. Welche Rolle spielt ehrliche Elternschaft in diesem Zusammenhang?

Eine große. Den Eindruck erwecken zu wollen, nach einem Elternabend in bester Laune und voller Aufopferung Muffins für die gesamte Schulklasse des Kindes zu backen, halte ich für schwierig. Denn häufig ist doch das Gegenteil der Fall. Meiner Meinung nach sollten Eltern zusammenhalten und nicht vermeintliche Idealbilder kreieren, die mit der Realität nichts zu tun haben. Eltern sollen ihre Meinung zu ihrem Kind oder einer bestimmten Situation mit ihrem Kind kundtun dürfen. Indem vor allem Social-Media-Accounts angebliche Alltagssituationen massiv beschönigen, entsteht ein falsches Bild.

Mit Blick auf manche Family-Accounts frage ich mich manchmal sogar, ob das Video in einem perfekt eingerichteten Möbelgeschäft gedreht wurde (lacht). Denn die Realität sieht schlichtweg anders aus. Eltern von Kleinkindern freuen sich, wenn sie rasch unter die Dusche springen können, ehe sie beim Mittagessen mit dem nächsten Spinatfleck bekleckert werden. Genau das ist aber die Realität und genau darüber muss und darf offen gesprochen werden.

Über den Gesprächspartner

  • Matthias Jung ist Diplompädagoge, Autor und Familiencoach. Im Oktober 2024 ist sein neues Buch "Immer darf ich alles nie!" erschienen, in dem er Hilfestellung und Entlastung bietet und Eltern und anderen Bezugspersonen mit Fakten und pädagogischem Wissen zur Seite steht. Matthias Jung ist zweifacher Vater und lebt mit seiner Familie in Mainz.
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