Schulangst ist für das betroffene Kind und seine Eltern eine enorme Belastung. Ein ganzes Jahr lang nahm ein 17-Jähriger aus diesem Grund nicht am Unterricht teil. Wie es ihm und seiner Mutter in dieser Zeit ging – und welch unkonventionelle Lösung letztendlich geholfen hat.
Sie wollen lernen und dazugehören, doch schaffen es einfach nicht in die Schule: Kinder und Jugendliche mit Schulangst. Tobias (Name geändert) aus Bayern ist einer von ihnen. Ein ganzes Jahr lang konnte er das Schulgebäude nicht betreten. Es fing schleichend an. "Etwa drei Monate konnte ich abends kaum oder gar nicht einschlafen. Dann kamen die Sommerferien, und danach ging gar nichts mehr", erinnert sich der 17-Jährige. Woher die Angst kam, kann er sich nicht genau erklären.
"Das Kind möchte dazugehören und ist genauso verzweifelt wie man selbst."
Das war vor vier Jahren. Seine Mutter Katharina (Name geändert) erinnert sich gut an die schwierige Zeit mit ihrem Pflegesohn: "Zuerst ist er noch aufgestanden, und wir haben es geschafft, dass er ins Auto gestiegen ist. Aber dann ist er an der Schule nicht aus dem Auto gestiegen. Irgendwann war es so weit, dass man ihn gar nicht mehr zur Schule gebracht hat."
Die Belastung sei für alle Beteiligten groß gewesen: "Man spielt alles durch, da probiert man es sanfter, mal weniger sanft. Da entsteht sehr viel Druck, auch innerhalb der Familie. Es gab Tränen, alles", sagt die Diplom-Pädagogin. "Das Kind möchte dazugehören und ist genauso verzweifelt wie man selbst."
Und dann seien da noch die gut gemeinten Ratschläge der Großeltern. Oder die Geschwister mussten immer wieder davon überzeugt werden, dass sie in die Schule sollen, obwohl ihr Bruder zu Hause bleibt.
Vormittags half Tobias dann im Haushalt. "Nachmittags habe ich mich mit Freunden getroffen, die von meinem Problem nichts wussten, denn sie gehen in eine andere Schule", erzählt er. Auch er empfand die Zeit als anstrengend: "Eigentlich wollte ich ja in die Schule und etwas lernen."
Gründe für Schulangst liegen oft in der Schule
Schulangst ist ein Thema, das viele Familien in Deutschland kennen. "Es ist im psychiatrischen Sinne aber keine Diagnose, sondern ein Sammelbegriff für unterschiedliche Formen von Ängsten", sagt Heinrich Ricking, der an der Universität Leipzig zu Schulabsentismus forscht. Die Ursachen seien oft in der Schule selbst zu finden, etwa Leistungsdruck, Angst vor dem Versagen oder Mobbing.
Aber auch familiäre Gründe können laut Ricking bei angstbedingter Schulmeidung eine Rolle spielen. So kann Trennungsangst unter anderem dazu führen, dass Kinder morgens nicht das Haus verlassen wollen, weil sie sich nicht von der Bezugsperson, etwa der Mutter, trennen können. Schulangst könne mitunter auch einhergehen mit einer Depression, die den Antrieb der Betroffenen beeinträchtige. In solchen Fällen schaffen es die Jugendlichen morgens nicht, aus dem Bett zu kommen und zur Schule zu gehen.
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Dem Wissenschaftler zufolge weisen Statistiken darauf hin, dass im Sekundarbereich - also ab der 5. Klasse - etwa drei bis fünf Prozent der Schüler mit gewohnheitsmäßigem und chronischem Fernbleiben zu tun haben. Die Folgen der Schulangst können gravierend sein. Laut Ricking zählen dazu Leistungsabfall, kein Schulabschluss, schlechte berufliche Perspektiven, soziale und psychische Probleme.
Aus einem schulischen Problem könne ein Lebensproblem werden. Zwar sei die Aufmerksamkeit für das Thema gewachsen, zugleich werde aber auch oft bagatellisiert.
Genaue Ursache der Angst bis heute unklar
Warum ihr Pflegesohn die Angst entwickelt hat, konnte nicht genau geklärt werden, sagt Katharina. Um ihre Erfahrungen zu teilen, hat sie eine Selbsthilfegruppe gegründet. "Der Austausch für uns Eltern ist extrem wichtig, da man ansonsten komplett allein gelassen wird mit dem Thema", so die Mutter.
"Vielleicht hat es etwas mit meiner Vergangenheit als Pflegekind zu tun", vermutet Tobias. "Als ich ein halbes Jahr alt war, wurde ich von meiner Familie getrennt und kam in eine neue."
Die Erfahrungen der Selbsthilfegruppe zeigen laut Katharina, dass eine genaue Ursache der Angst nicht auszumachen ist. Oft kämen verschiedene Problemlagen zusammen.
"Kinder mit Schulangst sind unter einem enormen Stress."
Bei Störungen wie Schulangst sei es tragisch, dass sie oft unerkannt blieben, so der Forscher Ricking. "Das sind die stillen Probleme. Sie äußern sich stärker in Rückzug, in Ohnmacht, in Hilflosigkeit, in Nichtsprechen, sich Zurückziehen aus sozialen Situationen."
Eine Situation zu meiden, die Angst auslöst, sei eine normale Strategie, sagt er. "Aber Schulen sollten Angstquellen eliminieren oder ihre Schüler stärken, angstbelastete Situationen besser zu bewältigen. Auch wenn Kinder die ganze Pause auf der Toilette verbringen, um Mitschülern aus dem Weg zu gehen, kann das auf eine Angstproblematik hindeuten", so Ricking. Oft gebe es Therapiebedarf.
In vielen Fällen sei eine Traumatherapie hilfreich, sagt Katharina, weil die das Kind erst einmal stabilisiere. "Kinder mit Schulangst sind unter einem enormen Stress, es hat in dieser Situation die höchste Priorität, diese Kinder zu stabilisieren", so ihre Erfahrung.
Ein Lehrer mit einer unkonventionellen Idee
Für Tobias fand sich am Ende eine Lösung, die laut Forscher Ricking in keinem Lehrbuch steht: "Von einem Lehrer kam der Vorschlag, mein Sohn solle doch einfach beim Hausmeister mitarbeiten", erzählt Katharina. "So haben wir ihn überhaupt erst wieder ins Schulhaus hineingebracht."
"Ich war erst skeptisch, aber ich wollte wieder in die Schule", erinnert sich Tobias. Deswegen habe er es versucht.

Etwa ein halbes Jahr lang standen für ihn statt Deutsch und Mathematik praktische Dinge auf dem Tagesplan. "Ich habe Laub gerecht, Rasen gemäht, Hecken geschnitten. Drinnen haben wir Sicherungen geprüft, Probe-Feueralarm gemacht, Lichter ausgetauscht, Löcher in den Wänden zugespachtelt oder auch die Werkstatt aufgeräumt", erzählt Tobias. Die Arbeit habe ihm sehr geholfen.
Hausmeister gab Tobias Rückhalt
"Für mich war er ein großer Gewinn. Tobias ist handwerklich sehr begabt und scheut sich nicht vor der Arbeit", sagt Hausmeister Stefan Ressler. Auch zwischenmenschlich habe es gepasst. Tobias wiederum fand in dem Hausmeister eine Vertrauensperson: "Er ist ein Rückhalt, mit dem kann man immer reden."
Von der Idee, dass ein Schüler bei ihm mitarbeiten soll, war Ressler zunächst überrascht. "Ich habe nicht viel nachgefragt, aber schon versucht, ihn zu motivieren, wieder in den Unterricht zu gehen oder mit den anderen in der Pause mal Fußball zu spielen", sagt er über Tobias.
Nach und nach besuchte der wieder den regulären Unterricht. Zwei Jahre nach Beginn des kompletten Aussetzens hatte er wieder in den Schulalltag gefunden.
Experte: Lehrer und Schulen können einiges für besseres Schulklima tun
Tobias hat seinen Weg gefunden - und Pläne: "Ich möchte bald meinen Abschluss machen und eine Ausbildung zum Landwirt machen." Gelegentlich hilft er dem Hausmeister noch bei Arbeiten. Und manchmal, wenn ihm alles zu viel wird in der Schule, trinkt er mit ihm einen Kaffee.
Laut Ricking können Lehrer und Schulen einiges tun, um ein angenehmes Schulklima zu schaffen, damit Schulangst gar nicht erst entsteht: "Sie sollten alles stärken, was Sicherheit und Klarheit stärkt und unterstützt", so der Wissenschaftler mit Blick auf eine transparente Tagesstruktur.
Außerdem sei es wichtig, dass Schulen gegen Mobbing und Gewalt vorgehen und Initiativen fördern, die soziale Kompetenzen bei Schülern stärken. Auch sollten Lehrkräfte aus seiner Sicht intensive Beziehungen zu ihren Schülern aufbauen, sie zu Einzelgesprächen einladen und sich erkundigen, wie es ihnen geht.
Solche Gespräche müssten gar nicht lange dauern, könnten aber wirksam sein. Tobias rät anderen Schülern, ihr Selbstbewusstsein zu stärken, in dem sie etwas lernen, was andere nicht können. Bei ihm sei es Traktorfahren gewesen. (dpa/bearbeitet von mak)
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Redaktioneller Hinweis
- Der Name des 17-Jährigen und seiner Mutter sind der dpa bekannt.