Der Erste Weltkrieg kostete über 15 Millionen Menschen das Leben. Dabei lässt sich die "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts auf ein konkretes Ereignis zurückführen: das Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand. Doch was wäre passiert, wenn es dieses Ereignis nie gegeben hätte? Mit solchen Fragen beschäftigt sich die Alternativgeschichte. Im Interview mit unserem Portal zeigt Zukunftsforscher Karlheinz Steinmüller einen anderen Weg durch die bekannte Geschichte.

Mehr aktuelle News

Herr Steinmüller, in der Geschichtswissenschaft geht es eigentlich um exakte Fakten. In der Alternativgeschichte nicht. Was macht die alternative Geschichtsschreibung?

Dr. Karlheinz Steinmüller lehrt an der Freien Universität Berlin. © Karlheinz Steinmüller

Karlheinz Steinmüller: Die Alternativgeschichte untersucht "was wäre geschehen, wenn …". Wenn also ein bestimmtes historisches Ereignis, eine bestimmte historische Entwicklung nicht so eingetreten wäre, wie wir es kennen. Bezogen auf den Ersten Weltkrieg lautet die Frage: Was wäre passiert, wenn Franz Ferdinand nicht Opfer eines Attentats geworden wäre? Dann kann man untersuchen, wie sich die historischen Ereignisse unter dieser anderen Bedingung entfaltet hätten.

Akzeptiert die Geschichtsforschung diesen Ansatz?

Die Historiker waren lange Zeit sehr abgeneigt gegenüber diesen alternativgeschichtlichen oder konjektural-historischen Spekulationen, weil sie vermuteten, dass der Beliebigkeit Tür und Tor geöffnet würde. Sie fürchteten, dass jeder seine Wunschvergangenheit bauen oder Schreckgespenster an die Wand malen kann. Tatsächlich kann die Alternativgeschichte aber zu einem besseren Verständnis der historischen Ereignisse verhelfen. Mit solchen Untersuchungen können wir die Aufmerksamkeit auf die wirklich entscheidenden Elemente in der Geschichte richten und dann fragen: "Was wäre, wenn …" Damit hat man ein neues Analyseinstrument für die Geschichte. Diese Ansicht hat sich aber erst in den vergangenen zehn bis 20 Jahren durchgesetzt.

Bezogen auf das Attentat am 28. Juni 1914, dem Auslöser des Ersten Weltkriegs: Welche Gedankenspiele sind hier möglich?

Damit hat sich beispielsweise der Historiker Niall Ferguson ausführlich befasst. Seine Idee lautet: Hätte das Attentat nicht stattgefunden, wäre gut einen Monat später der Erste Weltkrieg nicht ausgebrochen. Die gesamte Ereigniskette - also die österreichisch-ungarische Kriegserklärung an Serbien, der deutsche Kriegseintritt am 3. August 1914, die russische Unterstützung für Serbien sowie der französische Kriegseintritt - hätte nicht eingesetzt. Damit wäre auch die sogenannte "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts ausgeblieben.

Das hätte natürlich weitreichende Konsequenzen auf die Weltgeschichte gehabt, die dann wohl vollkommen anders verlaufen wäre.

Das stimmt. Kein Erster Weltkrieg hieße auch kein Zusammenbruch der deutschen und der österreichisch-ungarischen Monarchie, also auch kein Vertrag von Versailles. Im Nachgang wäre dann wohl auch keine nationalsozialistische Machtergreifung unter Hitler zustande gekommen. Hitler wäre dann womöglich ein mehr oder weniger bekannter Kunstmaler geworden. Es hätte wohl auch bedeutet, dass es in Russland nicht zur kommunistischen Oktoberrevolution gekommen wäre. Wir hätten weder die faschistische Diktatur in Deutschland, noch die stalinistische in Russland erlebt.

Hier bewegen wir uns aber im Raum der Spekulationen.

Schon, aber das sind eben Gedankenspiele, die bei der Erklärung der Geschichte helfen sollen. Robert Cowley geht zum Beispiel davon aus: Ohne Ersten Weltkrieg wäre auch der Zweite Weltkrieg und damit der Kalte Krieg ausgefallen. Was wir seiner Meinung nach dafür aber sehr viel früher gehabt hätten, wäre der Nord-Süd-Konflikt gewesen, also zwischen den alten Kolonialmächten und ihren Kolonien.

Was kann man aus diesen Gedankenspielen lernen?

Es geht nicht darum, sich eine Welt zu zeichnen, wie wir sie gerne hätten; sondern zu zeigen, dass von einzelnen Entscheidungspunkten völlig unterschiedliche Entwicklungen abzweigen können – unabhängig davon, was real oder wünschenswert ist. Das heißt bezogen auf den Ersten Weltkrieg: manche Entwicklungen wären möglicherweise nicht eingetreten, andere dafür umso schneller. Eine Schlussfolgerung aus dem genannten Beispiel ist: Der Nord-Süd-Konflikt hat schon lange geschwelt, wurde aber durch die Konflikte in Europa sozusagen überlagert. Hier spricht man von "Mega-Trends", die durch Einzelereignisse auf keinen Fall verhindert werden können. In unserem Beispiel ist der Nord-Süd-Konflikt ein "Mega-Trend".

Was heißt das für die Geschichtsschreibung?

Erstens, dass es keine eisernen Notwendigkeiten in der Geschichte gibt. Und zweitens, dass es tief verwurzelte Konfliktlinien gibt, also übergreifende, epochale Entwicklungen. Dieser "Generalbass" der Geschichte wird kaum von einzelnen historischen Ereignissen beeinflusst.

Zurück zum Ersten Weltkrieg: Zahlreiche Historiker gehen davon aus, dass der Erste Weltkrieg - wenn nicht im August 1914 - dann spätestens ein oder zwei Jahre später ausgebrochen wäre – weil in Europa eine enorm "aufgeheizte" Stimmung geherrscht hat.

Da gibt es ein breites Spektrum von alternativgeschichtlichen Spekulationen. Erstens: Der Erste Weltkrieg hätte wesentlich später stattgefunden und wäre auch nicht so grausam verlaufen, vielleicht ein rein kontinentaleuropäischer Krieg geblieben. Zweitens: Der Erste Weltkrieg wäre später ausgebrochen, dafür aber umso heftiger geworden. Oder Drittens: Zwischen dem Attentat auf Franz Ferdinand und dem tatsächlichen Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird eine Abzweigung genommen, die den Weltkrieg komplett verhindert. Dafür gab es ja genug Möglichkeiten.

Wenn der Erste Weltkrieg ausgefallen wäre, welche Konsequenzen hätte das gehabt?

Beispielsweise wäre eine frühere europäische Integration möglich gewesen – möglicherweise unter der Vorherrschaft eines aufgeklärten Deutschen Kaiserreiches. Ebenfalls denkbar ist eine viel frühere europäische Einigung unter gleichberechtigten Fürstenhäusern. Sicher ist aber: Es hätte allen Beteiligten wahnsinnig viele Opfer und Leid erspart. Die meisten alternativen Geschichtsforscher gehen davon aus, dass Europa und die Welt ohne den Ersten Weltkrieg eine humanere Entwicklung genommen hätten.

Dr. Karlheinz Steinmüller, geb. 1950, ist Mitgründer und Wissenschaftlicher Direktor der Z_punkt GmbH The Foresight Company. Der private Think Tank mit Sitz in Köln arbeitet für namhafte deutsche und internationale Unternehmen, aber auch für öffentliche Auftraggeber. Steinmüller war nach dem Physik- und Philosophiestudium in Chemnitz und Berlin zuerst an der Ostberliner Akademie der Wissenschaften mit der Modellierung von Ökosystemen befasst. In den 1980er Jahren begann er gemeinsam mit seiner Frau Angela Steinmüller Science Fiction zu schreiben. Seit 1991 ist er in der Zukunftsforschung tätig. Er lehrt an der Freien Universität Berlin Foresight-Methoden.
JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.