Am letzten Abend des Parteitags spricht die Präsidentschaftskandidatin der Demokraten über ihren Werdegang, ihre politischen Ziele, die Gefahr durch Trump – und sie beschwört mit scharfer Rhetorik die "größte Nation auf Erden".

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lukas Hermsmeier sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Irgendein großer Star, so hieß es gestern, werde kurz vor der Abschlussrede von Kamala Harris auftreten. Ein Gast, mit dem niemand gerechnet habe. Also wurde spekuliert: Könnte es vielleicht der ehemalige US-Präsident George W. Bush sein, also ein Republikaner, der vor Trump warnt? Oder doch ein Popstar, Taylor Swift etwa? Beyoncé?

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Als Harris um 22:32 Uhr die Bühne des United Centers in Chicago betritt, läuft zwar Beyoncés "Freedom" aus den Boxen, doch Harris ist alleine. Keine Überraschung. nur sie. Dem Publikum scheint das zu reichen. "Kamala! Kamala! Kamala", hallt es durch das Center, abgelöst von "USA! USA! USA!". Ein paar Minuten genießt Harris den donnernden Applaus, dann sagt sie: "Okay, lasst uns loslegen."

Die Abschlussreden an Parteitagen sind traditionell ein Spektakel, das ganze Land schaut zu. Der oder die Nominierte muss auf den Wahlkampf einschwören, programmatische Prioritäten vermitteln, die wichtigsten Narrative klarmachen, eine Stimmung erzeugen, den politischen Gegner ausstechen. Für die 59-jährige Harris kam gestern allerdings noch eine Aufgabe hinzu: Sie musste sich selber vorstellen.

Harris
Sie demonstrieren Einheit: (v.l.n.r.) Doug Emhoff, Ehemann von Kamala Harris, Running Mate Tim Walz und Ehefrau Gwen Walz. © picture alliance/ASSOCIATED PRESS/Brynn Anderson

Durch ihre Mutter geprägt

Normalerweise haben Präsidentschaftskandidaten lange Zeit, ihre Geschichte zu erzählen. Doch Harris übernahm die Kandidatur erst vor einem Monat vom amtierenden Präsidenten Joe Biden, der sich nach einem katastrophalen Wahlkampf zurückgezogen hatte. Viele Amerikaner kennen Harris' Namen, aber wissen immer noch nicht so richtig, wer sie ist, was sie will. Auch deshalb war die gestrige Rede die wichtigste ihres Lebens.

Harris beginnt biografisch, erzählt von ihrem Aufwachsen in Kalifornien, als Kind linker Eltern. Die ersten Minuten sind vor allem eine Ode an ihre verstorbene Mutter, die im Alter von 19 Jahren aus Indien nach Amerika kam, mit dem Ziel, Wissenschaftlerin zu werden und Brustkrebs zu heilen, und nach der Trennung von Harris' Vater alleinerziehende Mutter war.

"Sie hat uns beigebracht, nicht nur über Ungerechtigkeiten zu klagen, sondern etwas dagegen zu tun", so Harris. "Und das nicht nur mit einer halben Pobacke." Zugleich sei in ihrem Zuhause viel gelacht und Musik gehört worden. Ihr enormes Selbstbewusstsein, auch ihren Ehrgeiz, das hört man raus, hat Harris schon früh entwickelt.

Warnung von "Project 2025"

Harris schildert ihren Werdegang als Staatsanwältin, sagt, dass sie in ihrer gesamten Karriere nur einen einzigen Mandanten gehabt habe, nämlich "das Volk". Ihre Sätze werden staatstragender. Sie spricht von "der größten Nation auf Erden", später von der "größten Demokratie in der Geschichte der Welt". Sie verspricht, "Präsidentin aller Amerikaner" zu werden, und dass sie die heiligen Prinzipien des Landes, wie etwa das Recht und eine friedliche Machtübergabe, achten werde – Anspielungen natürlich auf ihren Kontrahenten.

Dann fällt auch der Name zum ersten Mal. Donald Trump sei ein "unseriöser Mann", wie Harris eine längere Warnpredigt gegen den Ex-Präsidenten einleitet. Sie erinnert an den Sturm aufs Kapitol am 6. Januar 2021, durch Trump damals angeheizt. Seine Wiederwahl hätte dramatische Konsequenzen, wie Harris ausführt. Sozialprogramme würden gekürzt werden, das Bildungsministerium abgeschafft.

"Wir wissen, wie eine zweite Amtszeit von Trump aussehen würde, es ist alles im 'Project 2025' dargelegt." Project 2025 ist der Name eines 900-seitigen Buches der Organisation The Heritage Foundation, in dem der rechte Umbau des Landes detailliert geschildert wird.

"Yes, she can": Obama tritt Harris Schlachtruf ab

Barack Obama ist weiter einer der einflussreichsten US-Demokraten. Beim Parteitag in Chicago gibt er Kamala Harris auf großer Bühne seinen Segen - und tritt ihr sogar seinen früheren Schlachtruf ab. Auch seine Ehefrau Michelle Obama wendet sich an die Partei. (Photocredit: picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Erin Hooley)

Vages Programm

Doch welche Art von Umbau schwebt Harris vor? Was will sie konkret ändern? Wo will sie sich auch von Biden absetzen? Vielen Amerikanern ist nicht klar, wie Harris' Regierung aussehen würde. Ihr Programm ist bislang noch unterentwickelt. Viel Neues kam gestern nicht hinzu.

Harris betont, dass der "Wiederaufbau der Mittelschicht" ein entscheidendes Ziel ihrer Präsidentschaft sein werde. Sie möchte eine "Wirtschaft der Möglichkeiten" errichten, die Arbeiter und Entrepreneure zusammenbringe. Lebensmittelpreise sollen runter, Steuern für Normal- und Geringverdiener auch. "Wir werden Amerikas Wohnmangel beenden", kündigt Harris an. Doch wie das alles funktionieren soll, das erklärt sie nicht. Großen Applaus gibt es, als Harris ankündigt, für das Abtreibungsrecht zu kämpfen.

In der letzten Viertelstunde schaltet Harris im Modus des Patriotismus nochmal ein paar Gänge nach oben. Erst geht es um die Sicherung der mexikanischen Grenze – in Sachen Einwanderung ist die Demokratische Partei in den letzten Jahren deutlich restriktiver geworden. Dann verspricht Harris, dass sie als Oberbefehlshaberin dafür sorgen werde, dass Amerika "das stärkste und tödlichste Militär der Welt" habe. Angesichts der vielen verheerenden Kriege der USA, etwa im Irak und Afghanistan, hinterlässt diese Aussage einen sehr bitteren Nachgeschmack.

Ein Halbsatz zum Klimawandel

Deutlich wird, dass Harris auf keinen Fall als "softe" Politikerin wahrgenommen werden will. Stattdessen markiert sie geopolitisch das Revier. Sie werde "Tyrannen und Diktatoren wie Kim Jong Un" die Stirn bieten. Im Kampf Demokratie versus Tyrannei sei klar, wo die USA ständen. Nicht China, sondern die USA würden "den Wettbewerb des 21. Jahrhunderts gewinnen". Der Ukraine sichert sie Unterstützung im Krieg gegen Russland zu.

Am Ende widmet sich Harris dem Thema, das seit Montag über dem Parteitag geschwebt ist, dem Krieg in Gaza. Sie setze sich zusammen mit Biden "rund um die Uhr" für einen Geiseldeal und eine Waffenruhe ein. Israel könne sich auf ihre Unterstützung verlassen. Aber auch die Palästinenser hätten ein Recht auf "Würde, Sicherheit, Freiheit und Selbstbestimmung", so Harris. Bemerkenswert laut ist der Applaus an dieser Stelle. Als Harris nach rund 35 Minuten zum Schluss kommt, läuft wieder "Freedom" von Beyoncé – der kämpferische Soundtrack ihres Wahlkampfes.

Unter dem Strich war die Rede weniger beschwingt als erwartet – anders etwa als bei Michelle und Barack Obama zwei Tage zuvor. Eine kohärente Vision konnte Harris nicht überbringen, dafür war auch das inhaltliche Programm zu rudimentär. Es ging sehr viel um Sicherheit, sehr viel um die Stärke Amerikas, sehr viel um die Gefahren für das Land. Gerade mal einen Halbsatz schenkte Harris der größten Herausforderung der Menschheit, dem Klimawandel. Zweifelhafte Prioritäten.

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