Der Verlust der Kanzlerschaft wäre für die Sozialdemokraten zunächst ein massiver Schock. Auf lange Sicht könnten die Genossen aber auf der Oppositionsbank neu erstarken.

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Noch hat Kanzler Christian Kern nicht verspielt. Vor ihm liegt die Intensivphase des Wahlkampfs, in der er den jungen Senkrechtstarter Sebastian Kurz entzaubern möchte.

Das ist die letzte Hoffnung der Sozialdemokraten: Dass ihr Spitzenkandidat auf den letzten Metern die Souveränität seines Alters, seiner Erfahrung und seines Amtes ausspielt. Noch, heißt es bei den Genossen trotzig, sei alles möglich.

Allzu wahrscheinlich ist es aber nicht. In jeder Umfrage der vergangenen Monate führt der Kurz mit sattem Vorsprung auf den Amtsverteidiger Kern.

Die letzte große Umfrage von Unique Research für die Tageszeitung "Heute" sieht die Konservativen mit neun Prozentpunkten vor der SPÖ. "Von einer Aufholjagd kann keine Rede sein", sagte Unique-Research-Chef Peter Hajek unlängst unserer Redaktion.

Schmerzhafte Niederlage droht

Sollte sich Kurz in den nächsten Wochen keinen groben Schnitzer leisten, dürfte ihm der Sieg bei den Nationalratswahlen kaum zu nehmen sein.

Das wäre die bisher größte und schmerzhafteste Niederlage der stolzen SPÖ. Wenn auch nicht die erste.

Wie verwundbar die Partei geworden ist, zeigte sich bei den Bundespräsidentschaftswahlen im Mai 2016, als der rote Kandidat Rudolf Hundstorfer mit knapp elf Prozent kläglich die Stichwahl verpasste. Angesichts der starken Stammwählerschaft der SPÖ wäre eine solche Blamage noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen – egal mit welchem Kandidaten.

Aber der Niedergang der mächtigen Arbeiterpartei hatte sich schon zuvor angekündigt. In der Ära von Kerns Vorgänger Werner Faymann verlor die SPÖ 18 von 20 Wahlen.

Am schmerzhaftesten war wohl der Verlust der Landeshauptleute von Salzburg und der Steiermark, wo nun wieder die ÖVP am Ruder sitzt. Einzig in Kärnten konnte Peter Kaiser einen Erfolg feiern und nach fast drei Jahrzehnten den Landeshauptmann zurückholen.

Das blieb ein Ausreißer, der den Abwärtstrend der SPÖ nicht aufhalten konnte. Auch der kurze Hype nach der Übernahme von Kern verpuffte rasch. Die Wahrscheinlichkeit, dass die SPÖ in wenigen Monaten auf der Reservebank landet, ist groß - hat der Kanzler doch angekündigt, als Nummer zwei bei der Nationalratswahl in Opposition zu gehen.

SPÖ hat viel zu verlieren

Das wäre für eine langjährige Regierungspartei ein Desaster. "Die SPÖ hat viel mehr zu verlieren als bloß die Kanzlerschaft", sagt Heimo Lepuschitz.

Der heutige Politik- und Medienberater war einst Pressesprecher mehrerer BZÖ-Minister, er hat den Übergang des orangen Bündnisses von der Regierungsbank in die Opposition mitgemacht. Heute ist das von Jörg Haider gegründete BZÖ Geschichte.

Für die SPÖ könnte der Machtverlust in wirtschaftlicher Hinsicht eine Existenzbedrohung darstellen, glaubt Lepuschitz: "Da haben sehr viele Leute sehr viel zu verlieren."

Neben den Regierungsmitgliedern würden auch hunderte Kabinettsmitarbeiter ihren Job verlieren. Zahlreiche SPÖ-nahe Vereine und Organisationen müssten unter Schwarz-Blau eine stiefmütterlichere Behandlung fürchten.

Ob das die SPÖ-nahen Kinderfreunden sind, die SPÖ-nahe Volkshilfe oder viele andere: Sie sind von Förderungen der öffentlichen Hand abhängig.

Dazu kommt, dass sowohl die FPÖ als auch die NEOS als mögliche ÖVP-Koalitionspartner den Einfluss der Sozialpartner massiv zurückschrauben wollen. Arbeiterkammer und ÖGB sind aber die wichtigsten Machtzentren der SPÖ außerhalb der Bundesregierung.

Könnte eine Niederlage bei den kommenden Wahlen also den endgültigen Niedergang der österreichischen Sozialdemokratie einleiten?

Ausgerechnet die ÖVP könnte SPÖ helfen

Ganz so dramatisch wird es wohl nicht kommen. Und das liegt an der Volkspartei, dem konservativen Zwilling der Roten.

Auch die ÖVP hat eine mächtige Klientel an Organisationen und Unternehmungen außerhalb der Regierung zu bedienen. Auch sie ist auf das Machtzentrum Wirtschaftskammer angewiesen.

Und auch in der ÖVP gibt es beachtliche Beharrungskräfte, die darauf hinweisen, dass beinahe jeder Schnitt ins Fleisch der SPÖ auch ein Schnitt ins eigene Fleisch sein könnte.

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Der neue Parteichef Kurz mag erstaunlichen Reformeifer mitbringen. Aber am Ende ist auch er auf die Zustimmung altgedienter ÖVP-Funktionäre in den Parteigremien angewiesen.

Diese Erfahrung musste auch der bisher letzte ÖVP-Kanzler Wolfgang Schüssel machen: "Man unterschätzt bei der der ÖVP die Beharrungskräfte in den eigenen Reihen", sagt Lepuschitz.

Und noch etwas könnte der SPÖ den bitteren Gang in die Opposition versüßen: Wenn die Sozialdemokraten einmal nicht mehr auf die Zustimmung eines bürgerlichen Koalitionspartners angewiesen sind, könnten sie ihr linkes Profil schärfen und angriffiger werden.

Dies umso mehr, als das von Kurz bisher präsentierte Programm einen deutlich wirtschaftsfreundlichen Kurs vorgibt. Es wird Einsparungen geben, viele sozial Schwächere werden das zu spüren bekommen. Dagegen lässt es sich als SPÖ leicht opponieren.

Dass sie das können, haben die Sozialdemokraten schon in den Jahren 2000 bis 2006 bewiesen, als ÖVP-Kanzler Wolfgang Schüssel erst mit der FPÖ, dann mit dem BZÖ regierte.

Diese sechs Jahre in der Opposition waren für die Roten insgesamt alles andere als verlustreich. In Wien konnte Bürgermeister Michael Häupl mit markigen Sprüchen gegen die Bundesregierung bei Wahlen seine Macht ausbauen. In zwei anderen Bundesländern – Salzburg und der Steiermark – wurde die SPÖ unerwartet Nummer eins.

Mit Heinz Fischer zog erstmals nach 18 Jahren wieder ein SPÖ-Kandidat in der Hofburg ein. Und bei den Nationalratswahlen 2006 lag SPÖ-Kandidat Alfred Gusenbauer trotz widrigster Umstände vorne.

"Sozialfighter statt Eurofighter" lautete der Slogan des siegreichen SPÖ-Spitzenkandidaten – eine geschickte Polemik gegen die unpopuläre Anschaffung der teuren Jagdflugzeuge für das Bundesheer.

Chance auf Rundumerneuerung

Die SPÖ könnte die Opposition zur Runderneuerung nützen und auf ein starkes Comeback bei der Nationalratswahl 2022 setzen.

Auch für die kommenden Landtagswahlen sieht es nicht übel aus für die Roten: Die FPÖ hatte zuletzt in Wien, der Steiermark und Oberösterreich Rekordergebnisse eingefahren, die im Falle einer Regierungsbeteiligung kaum zu halten sein werden.

Zudem schwächelt FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache. Das könnte eine Chance für eine neue, kantigere SPÖ sein.

Freilich: Gut möglich, dass sich diese Frage am Ende nicht stellt. Denn sowohl aus den Reihen der SPÖ als auch aus jenen der ÖVP werden die Rufe nach einer Neuauflage der großen Koalition – mit umgekehrten Vorzeichen unter einem Kanzler Kurz – lauter.

Am Ende sind sich die beiden großen Parteien ähnlicher, als es ihnen lieb ist. Siehe oben: Man sollte die Beharrungskräfte nicht unterschätzen.

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