Die Diktator-Vorwürfe gegen den neuen ÖVP-Chef sind substanzlos. Gerade weil Sebastian Kurz offensichtlich weder Orbán oder Erdoğan ist, verschaffen ihm seine schärfsten Kritiker einen Höhenflug. Ob der bis zur Wahl im Herbst anhält, wird sich weisen.

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Was war da in den letzten Tagen in Postings und Zeitungskommentaren nicht zu lesen über die neue Volkspartei unter Sebastian Kurz. Von einer "Unterwerfung" der Schwarzen unter den "Alleinherrscher" Kurz schrieb der "Standard" in einem Kommentar. An anderer Stelle wurde dem jungen Außenminister gar eine "autoritäre" Gesinnung unterstellt. Noch schärfer gingen ausländische Medien mit dem schwarzen Sunnyboy zu Gericht: Die linke "Taz" aus Berlin zog sogar den Vergleich mit Orbán und Erdoğan.

Hoch gewonnen und gepokert


Solche Vergleiche halten einem Realitätscheck nicht stand. Kurz hat hoch gewonnen und gepokert: Er geht zwar als mächtigster ÖVP-Spitzenkandidat aller Zeiten in den kommenden Wahlkampf. Das hat aber vor allem damit zu tun, dass seine Vorgänger mehr als andere Parteichefs unter der Knute mächtiger Länderchefs standen. Deren Einfluss wird auch in Zukunft nicht allzu sehr schwinden: Zwar hat sich der neue Parteichef formal von ihnen freigestrampelt. Spätestens, wenn es um die Finanzierung seines Wahlkampfs geht, wird er sich aber mit ihnen arrangieren müssen. Denn die Bundespartei verfügt nur über überschaubare Geldmittel und hängt am Tropf der Länderorganisationen. Kurz ist weit davon entfernt, ein Austro-Orban zu werden, der ohne Rücksicht auf seine Partei agieren kann. Die Vorwürfe empörter Journalisten und politischer Gegner verpuffen.

Viel spricht sogar dafür, dass sie Kurz nützen werden. "Selten war die ÖVP-Basis so geeint wie nach der Bestellung von Sebastian Kurz zum Parteiobmann", schreibt ein früherer schwarzer Spindoctor auf Facebook. "Gerade die so heftig agierenden Kritiker geben den perfekten Außenfeind ab." Mit anderen Worten: Die Dämonisierung des ÖVP-Spitzenkandidaten kann Kurz selbst massiv zu Gute kommen.

"Vergleich zwischen Erdogan und Kurz ist lächerlich"

Das sieht auch der Politologe und Meinungsforscher Peter Hajek so. Er fühlt sich an den früheren FPÖ-Chef und Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider erinnert. "Auch auf ihn haben seine Gegner mit der Faschismuskeule eingedroschen." Die Gegenreaktionen seien derart überzogen gewesen, dass sie am Ende zu einer Solidarisierung vieler Wähler mit dem Attackierten geführt hätten. "Solche Attacken wirken nur bei Hardcore-Gegnern", sagt Hajek. Wähler aus der Mitte der Gesellschaft würden solche Vorwürfe eher als "absurd" betrachten. Hajek: "Erdoğan lässt tausende Journalisten einsperren und will die Todesstrafe wiedereinführen. Der Vergleich mit Kurz ist lächerlich."

Ist dem designierten ÖVP-Chef der Einzug ins Kanzleramt also gar nicht mehr zu nehmen? Mitnichten, meint Experte Hajek. "Bis zum Wahlkampf wird noch viel Wasser die Donau hinunterfließen." Die Wahrscheinlichkeit sei groß, dass Kurz´Wunderwuzzi-Nimbus in den kommenden Monaten leide. "Früher oder später macht jeder einen Fehler." Dass der Außenminister das Amt des Vizekanzlers offenkundig aus parteitaktischen Überlegungen ausschlägt, sei jedenfalls Wasser auf den Mühlen der Roten. "Wer jetzt die SPÖ abschreibt, macht denselben Fehler wie jene, die Kurz dämonisieren."

Kern präsentiert sich als stabile Kraft

Denn auch die Ausgangslage des Kanzlers ist nicht so schlecht: Christian Kern hat es in den vergangenen Tagen geschafft, sich gegenüber der ÖVP – dir zwischenzeitig im Chaos zu versinken drohte – als stabile Kraft zu präsentieren. Auch ist die SPÖ gut auf einen Wahlkampf vorbereitet: Unter der Hand erzählen rote Insider, dass sich die Parteispitze schon seit Monaten darauf vorbereitet hat.

Auch die FPÖ hat rasch reagiert, Parteichef Strache präsentierte bereits am Montag erste Wahlsujets. Die Chancen für die Freiheitlichen, Teil einer neuen Regierungskoalition zu werden, sind gut wie noch nie. Denn erstmals schließen weder Rot noch Schwarz eine ernsthafte Zusammenarbeit mit den Blauen aus. Einziger Wermutstropfen: Als mit Abstand längstdienender Parteichef im Parlament droht Strache zwischen den beiden noch frischen Spitzenkandidaten Kern und Kurz unterzugehen.

Grüne finanziell ausgeblutet

Dasselbe Schicksal könnte Grün und Pink drohen. Beide Parteien treffen Neuwahlen am falschen Fuß, die Grünen sind zudem finanziell ausgeblutet vom langen Präsidentschaftswahlkampf für Alexander Van der Bellen, den sie nach Kräften unterstützt haben. Am bittersten aber trifft es das Team Stronach: Allen Umfragen zufolge hat die Partei nicht den Hauch einer Chance, wieder ins Parlament einzuziehen.

Damit spricht vieles dafür, dass sich eine tragfähige Koalition von Rot oder Schwarz nur gemeinsam mit der FPÖ möglich sein wird.

Wer von den beiden Großen hat aber nun jetzt die besseren Karten: Kern oder Kurz? Meinungsforscher Hajek sagt ehrlich: "Das kann man einfach noch nicht sagen."

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