Nach zähem Ringen haben sich Union und SPD auf einen neuen Koalitionsvertrag geeinigt. Was hat das Papier inhaltlich zu bieten? Ist es ein Zeichen politischen Stillstands oder steht es für einen wirklichen Neuanfang?

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Viele Kompromisse und nächtliche Sitzungen waren nötig, damit sich Union und SPD auf einen neuen Koalitionsvertrag verständigen konnten. Auf 179 Seiten steht nun, wie Deutschland in den nächsten vier Jahren regiert werden soll.

Vor allem viele SPD-Politiker hatten im Vorfeld gefordert, es dürfe kein "weiter so" geben. Was ist aus dieser Forderungen geworden?

Marc Jungblut vom Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München und Ursula Münch von der Akademie für Politische Bildung in Tutzing haben für dieses Portal den Vertrag unter die Lupe genommen. Jungbluts Fazit: "Die neue GroKo steht primär für Kontinuität" - aus einigen Beschlüssen spreche aber vorsichtige Aufbruchsstimmung. Münch kommt zu einer ähnlichen Einschätzung. Auch sie sieht ein Bündnis, das vieles fortsetzen, aber auch einiges ändern will.

Europa

Die Europapolitik ist eines der Hauptanliegen des Noch-Parteichefs der SPD, Martin Schulz. Sie steht im Koalitionsvertrag an erster Stelle – ein Novum.

"Da sehe ich ganz viel Aufbruchsstimmung", sagt Ursula Münch. "Dass man das Thema vorneweg stellt und nicht einfach wartet, was passiert, halte ich für ganz wichtig."

Union und SPD wollen ein erneuertes und chancengerechtes Europa schaffen und die europäische Integration vertiefen.

Als konkrete Ziele werden die Stärkung der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, sowie die Bekämpfung von Steuerflucht, Steuervermeidung und Sozialdumping genannt.

Unerwähnt bleibt hingegen die Forderung von Martin Schulz nach einem europäischen Wirtschafts- und Finanzminister, den vor allem die CSU skeptisch sieht.

"Was im Vertrag drin steht, geht weit über das hinaus, was viele andere Staaten in Europa wollen", sagt Münch. Daher hätte es aus ihrer Sicht auch keinen Sinn gemacht, weiter in die Tiefe zu gehen.

Bildung, Forschung, Digitalisierung

Die Bemühungen im Bereich der Bildung, Forschung und Digitalisierung nennt Münch "ein ehrgeiziges Vorhaben".

Die Koalition will das Recht auf schnelles Internet bis spätestens 2025 gesetzlich verankern. Die Bevölkerung, insbesondere im ländlichen Raum, soll flächendeckend mit schnellem Internet mit Gigabit-Netzen versorgt werden.

Bis zu zwölf Milliarden Euro wollen Union und SPD in der kommenden Legislaturperiode dafür zur Verfügung stellen. Hinzu kommen Gelder für Kitas, Hochschulen und die berufliche Bildung. "Das ist finanziell betrachtet ein ganz massiver Fortschritt", sagt Politologin Münch.

Steuern und Abgaben

Kein Spitzensteuersatz, keine Erbschaftssteuer - nach einer groß angelegten Steuerreform sucht man im Koalitionsvertrag vergeblich. Für Jungblut ist das ein klares Beispiel für ein "Weiter so".

"Die CDU wollte keine Steuererhöhung, die SPD wollte eine Umverteilung. Dass das schwer zu vereinbaren war, ist klar", sagt Münch.

Lediglich auf einen schrittweisen Abbau des Solidaritätszuschlags haben sich die Parteien geeinigt. Im Jahr 2021 soll der "Soli", der nach der Wiedervereinigung zur Finanzierung des Aufbaus Ost erhoben wurde, erstmals für 90 Prozent der Steuerzahler wegfallen. Wer als Single weniger als 61.000 Euro verdient, für den entfällt die Abgabe. Menschen mit kleineren und mittleren Einkommen werden so entlastet.

Die Union hätte die Abgabe am liebsten sofort komplett abgeschafft. Dass Besserverdiener zunächst weiterzahlen müssen, ist ein Zugeständnis an die SPD.

Finanzpolitik

"Die wichtigste Konstante des Koalitionsvertrages findet sich in der Finanzpolitik", sagt Jungblut. Trotz der geplanten Mehrausgaben wollen Union und SPD an der sogenannten Schwarzen Null festhalten. Heißt: Deutschland soll auch in den kommenden Jahren keine neuen Schulden machen.

An dieser Stelle hat sich die Union durchgesetzt. Sie beharrte in Zeiten sprudelnder Steuereinnahmen auf Haushaltsdisziplin.

Energie

Auch in der Energiepolitik sieht Jungblut "eher ein Kurshalten als eine politische Wende".

Die Parteien gestehen ein, dass das selbst gesteckte Klimaziel für 2020 nicht zu halten ist. Stattdessen vertrösten sie auf 2030. Die für dieses Datum anvisierten Ziele sollen erreicht werden.

Dazu wollen Union und SPD die "Handlungslücke" bei der verfehlten Senkung des CO2-Ausstoßes bis 2020 schließen. Eine Kommission soll bis Ende 2018 Maßnahmen erarbeiten – unter der Beachtung von Versorgungssicherheit, Sauberkeit, Wirtschaftlichkeit und Umsetzung ohne Strukturbrüche. Dass der von Klimaschützern und Grünen-Politikern geforderte Kohleausstieg zeitnah kommt, ist unter diesen Prämissen nicht zu erwarten.

Zudem ist geplant, erneuerbare Energien schneller auszubauen - auch das eine altbekannte Forderung.

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