• Im Mai wird in der Türkei gewählt; Präsident Erdoğan will sich eine weitere Amtszeit sichern.
  • Mit vereinten Kräften versucht die Opposition, das in einem Sechser-Bündnis zu verhindern.
  • Wie Erdoğan an seiner Macht festhält und wie seine Chancen stehen, schätzt ein Türkei-Experte ein.

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Am 14. Mai finden in der Türkei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Erdoğan will seinen Machterhalt mit seiner konservativ-islamischen AKP sichern, mit der er bereits seit 20 Jahren regiert. Doch die Opposition hat ein klares Ziel vor Augen: Eine weitere Amtszeit von Erdoğan verhindern.

Ob die überhaupt rechtens wäre, ist strittig. Eine Verfassungsänderung gab dem amtierenden Präsidenten in seiner zweiten Amtszeit von Juli 2018 an fast uneingeschränkte Macht und machte das türkische Regierungssystem zu einem Präsidialsystem. Das möchte die Opposition nach einem Wahlsieg rückgängig machen.

Präsidialsystem rückabwickeln

Mit dem Versprechen, die Türkei wieder zu einem funktionierenden Rechtsstaat zu machen, hat sie erstmals ein Sechs-Parteien-Bündnis zusammengeschlossen. "Unser Hauptziel ist es, die Türkei zu einem glücklichen Land zu machen, in dem jeder ein menschenwürdiges Leben führt", heißt es ihrem Wahlprogramm.

"Mit der Verfassungsänderung von 2017 hat die Türkei einen Weg eingeschlagen, der weg von der Demokratie führt", sagt Politikwissenschaftler Ismail Küpeli. Der Präsident könne nun beispielsweise durch Dekrete vorbei am Parlament regieren. Auf diese Weise hatte Erdoğan zum Beispiel hohe Beamte wie den Zentralbankchef gefeuert. "In vielen Bereichen ist autoritär vorgegangen worden. Das erlaubt es Erdoğan jetzt auch, den Wahltermin vorzuziehen. All dies dient dem eigenen Machterhalt", so der Experte.

Wahlen auf symbolträchtigen Tag vorgezogen

Eigentlich sollten die Parlaments- und Präsidentenwahlen im Juni stattfinden, Erdoğan hatte sich im Januar dafür ausgesprochen, sie um einen Monat auf den 14. Mai vorzuziehen. Das Datum ist symbolträchtig: Vor 73 Jahren, am 14. Mai 1950, fanden nach der Einführung des Mehrparteiensystems die ersten freien Wahlen statt. Der Hohe Wahlrat muss das Wahldatum noch bestätigen.

Zuletzt hatte der türkische Präsident in Umfragen wieder Aufwind, sodass das Rennen mit möglichen Herausforderern wieder offener scheint. In den manchen Umfragen liegt das Regierungslager vorn, in anderen die Opposition. Erdoğan profitiert aktuell von den internationalen Auftritten der Türkei, die im Ukraine-Krieg eine Vermittlerrolle beim Getreideabkommen und bei Gefangenenaustauschen gespielt hatte.

Nationalistische Mobilisierung

Auch sein konfrontativer Kurs in Sachen NATO-Beitritt von Schweden und Finnland kommt gut an. Zustimmung, die Erdoğan bitter nötig hat: Zuvor hatte die desaströse wirtschaftliche Lage bei einer Inflation von über 80 Prozent seine Popularität erheblich geschmälert.

"Erdoğan versucht jetzt, mit seiner typischen Strategie die Wahlen für sich zu entscheiden", beobachtet Küpeli. Für die ökonomischen Probleme habe die Regierung keine Lösung, sie konzentriere sich vielmehr auf nationalistische Mobilisierung und einen unfairen Wahlkampf.

Jüngst hatte die Regierung den Mindestlohn deutlich erhöht, Supermarktketten zu Preissenkungen gezwungen und eine Teil-Steueramnestie versprochen. "Manche warnen außerdem vor einem möglichen Krieg in den kurdischen Gebieten in Nordsyrien", sagt Küpeli.

Unfairer Wahlkampf

Der unfaire Wahlkampf treffe vor allem die prokurdische, linke HDP. "Es läuft aktuell ein Verbotsverfahren und die Wahlkampfgelder sind bereits eingefroren", erklärt Küpeli. Die Partei habe kaum noch Möglichkeiten, Wahlkampf zu führen. "Abgeordnete sind inhaftiert und es läuft eine sehr starke Repression. Wenn wir freie und faire Wahlen hätten, wäre sie deutlich stärker", ist sich der Experte sicher.

Die HDP ist drittstärkste Kraft im Parlament, aber aktuell kein Teil des Oppositions-Bündnisses. 2018 erhielt sie fast sechs Millionen Stimmen und bildet in der türkischen Nationalversammlung derzeit die zweitstärkste Oppositionsfraktion.

Mögliche Herausforderer

Wer Herausforderer von Erdoğan wird, steht noch nicht fest und soll Mitte Februar bekannt gegeben werden. Im Gespräch ist der 74-jährige Kemal Kılıçdaroğlu, Vorsitzender der sozialdemokratischen CHP, der größten Oppositionspartei. Er ist bekannt dafür, kritische Stimme gegen die Regierungspolitik und die Menschenrechtslage in der Türkei zu sein.

Weiterer Kandidat aus der säkularen Partei: Der Mann, der Erdoğans Image als der Unbesiegbare gebrochen hat - Ekrem Imamoğlu. Der Oberbürgermeister von Istanbul gewann 2019 die dortigen Kommunalwahlen spektakulär. Nach einem Vierteljahrhundert eroberte der Oppositionskandidat die Metropole, die zuvor fest in konservativer Hand war. Das Blatt wendete sich auch in der Hauptstadt Ankara sowie in den Städten Izmir und Antalya.

Gegner ausgeschaltet

"Bis vor kurzem war er der aussichtsreichste Kandidat der Opposition", sagt Küpeli. Erdoğan habe seinen gefährlichsten Gegner allerdings ausgeschaltet: Imamoğlu wurde im Dezember wegen angeblicher Beamtenbeleidigung verurteilt.

"Die Haftstrafe ist noch nicht bestätigt, aber schon in erster Instanz umgesetzt. Selbst, wenn die Gerichte zeitnah keine Entscheidung treffen, droht ihm nach der Wahl ein Politikverbot. Dann könnte er kein Präsident mehr sein", erklärt Küpeli.

HDP: Zünglein an der Waage

Neben Imamoğlu oder Kılıçdaroğlu könnte die prokurdische HDP ihre Co-Vorsitzende Pervin Buldan als dritten Kandidaten ins Rennen schicken. Sie ist Abgeordnete im türkischen Parlament und vor allem im Bereich Menschenrechtspolitik aktiv.

Hält die HDP an einem eigenen Kandidaten fest, würde der Präsident aber vermutlich erst in einer Stichwahl bestimmt werden. "Es hängt jetzt sehr davon ab, wie sich die HDP verhält", meint Küpeli. Sie könnte ihre Kandidatin nach Verhandlungen mit der Sechserallianz noch zurückziehen. So geschehen schon 2019 bei den Kommunalwahlen. Damals verzichtete die Parteiführung in einigen Städten auf eigene Kandidaturen und rief zur Wahl der CHP-Kandidaten auf. Das brachte der HDP den Ruf als Königsmacherin.

Schlag für die Demokratie

"Es ist davon auszugehen, dass die HDP am Ende die Opposition unterstützen wird, aber es wird vermutlich keine formellen Absprachen geben", sagt der Türkei-Kenner. Erdoğan zu besiegen, scheint in der ersten Runde realistischer: Ihm wird zugetraut, bei einer möglichen Stichwahl besser zu mobilisieren.

Sollte es zu einer weiteren Amtszeit Erdoğans kommen, sieht Küpeli einen weiteren schweren Schlag für die Demokratie in der Türkei. "Man konnten schon vor der Verfassungsänderung nur begrenzt über eine freie Demokratie sprechen, es war eine Fassadendemokratie", sagt er. Bei der jetzigen Wahl seien die Ergebnisse bereits im Vorfeld gelenkt und manipuliert.

"Sowohl in den USA als auch in Brasilien konnte man sehen, dass abgewählte Autokraten versuchen, die Wahlergebnisse in Zweifel zu ziehen. Es ist auch fraglich, ob Erdogan eine Wahlniederlage akzeptieren würde", sagt Küpeli.

Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels wurde Istanbul als Hauptstadt der Türkei bezeichnet. Die Hauptstadt der Türkei ist aber Ankara. Wir haben den Fehler korrigiert.

Über den Experten:
Dr. Ismail Küpeli ist Politikwissenschaftler und forscht zu Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus. Er promovierte zum Thema "Die kurdische Frage in der Türkei. Über die gewaltsame Durchsetzung von Nationalstaatlichkeit."
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