Polen und Ungarn haben den Beschluss für ein Corona-Hilfspaket der EU blockiert. Hinter dem Veto der beiden Staaten steckt aber weit mehr als die EU-Hilfen.
Ungarn und Polen haben die Europäische Union mitten in der Corona-Pandemie in eine schwere politische Krise gestürzt. Aus Protest gegen ein neues Verfahren zur Ahndung von Rechtsstaatsverstößen blockieren die beiden Länder die Entscheidung für milliardenschwere Corona-Konjunkturhilfen und den langfristigen Haushalt der EU. Bei einer Videoschalte der Staats- und Regierungschefs soll an diesem Donnerstagabend ein erster Versuch unternommen werden, den Streit zu lösen. Hilft am Ende nur ein Verfahren, das in Brüssel als "Atombombe" bezeichnet wird?
Worum geht es in dem Streit?
Ungarn und Polen wollen nicht akzeptieren, dass ihnen künftig bei Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit EU-Mittel gekürzt werden könnten. Das soll zwar nur dann möglich sein, wenn wegen der Verstöße ein Missbrauch von EU-Geldern droht. Dies könnte aber schon der Fall sein, wenn eine mangelnde Unabhängigkeit von Gerichten begründete Bedenken weckt, dass Entscheidungen über die Verteilung von EU-Mitteln nicht mehr unabhängig kontrolliert werden können.
Warum ist das überhaupt ein Problem für Ungarn und Polen?
Die Regierungen in Budapest und Warschau befürchten, dass das neue Verfahren vor allem gegen sie eingesetzt werden soll. Ihnen wird seit langem vorgeworfen, ihren Einfluss auf die Justiz in unzulässiger Weise auszubauen. Zudem werden zum Beispiel Einschränkungen der Medienfreiheit und ein unzureichender Schutz von Minderheiten bemängelt.
Welche Folgen kann der Streit haben?
Sollte es in den nächsten Wochen keine Einigung geben, müsste die EU von Januar an mit einem Nothaushalt arbeiten. Nach Angaben aus der EU-Kommission könnten geplante Programme für Forschung, Gesundheit, Bildung und Jugend nicht starten.
Frisches Geld würde es nur noch für die Agrarförderung, die EU-Verwaltung, humanitäre Hilfe und die Außen- und Sicherheitspolitik geben. Zudem dürfte die EU-Kommission nicht damit beginnen, auf dem Finanzmarkt die Gelder für die geplanten Corona-Hilfen zur Unterstützung der Wirtschaft aufzunehmen.
Wer würde am stärksten darunter leiden?
Auf die Corona-Hilfen sind vor allem diejenigen EU-Länder angewiesen, die wirtschaftlich stark unter der Coronakrise leiden und gleichzeitig ein Schuldenproblem haben. Das sind zum Beispiel Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und Belgien.
Laut der Herbstprognose der EU-Kommission wird allein die Wirtschaftsleistung Spaniens in diesem Jahr um 12,4 Prozent einbrechen. Zum Vergleich: Für Deutschland wird von den EU-Experten lediglich ein Rückgang von 5,6 Prozent prognostiziert.
Wie viel Geld steht auf dem Spiel?
Italien könnte zum Beispiel rund 65,5 Milliarden Euro an Zuschüssen aus der sogenannten Aufbau- und Resilienzfazilität bekommen, Spanien rund 59 Milliarden Euro. Insgesamt umfasst das Paket für die Corona-Hilfen 750 Milliarden Euro. Neben Zuschüssen sollen auch noch Kredite in Höhe von 360 Milliarden Euro vergeben werden können.
Würden nicht auch Ungarn und Polen auf Geld verzichten müssen?
Ja, Polen könnte eigentlich mit rund 23 Milliarden Euro an Zuschüssen rechnen, Ungarn mit etwa 6 Milliarden Euro. Zudem würden die Länder auch kein frisches Geld aus der EU-Regionalförderung bekommen. Die Regierungen tun aber so, als wären sie nicht so auf das Geld angewiesen. Sie setzen darauf, dass ihre Blockade den wirtschaftlichen Druck auf südliche Länder so stark erhöht, dass diese am Ende dafür plädieren, das EU-Finanzpaket ohne oder mit einem abgeschwächtem Rechtsstaatsmechanismus zu beschließen.
Wie viele Corona-Hilfen würden Österreich entgehen?
Österreich könnte nach im September veröffentlichten Schätzungen rund 2,995 Milliarden Euro an EU-Corona-Hilfen bekommen. Das ist deutlich weniger als nach dem ursprünglich von der EU-Kommission geplanten Verteilungsschlüssel. Danach hätte Österreich 4,79 Milliarden Euro an Zuschüssen erhalten sollen.
Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) hatte am Montagabend klargemacht, dass er von Ungarn und Polen eine Aufgabe ihres Vetos erwartet. "Auch Österreich war nicht in allen Punkten zufrieden, aber wir zeigen uns solidarisch", sagte Blümel in der "ZiB 2" des ORF.
Welche Druckmittel könnten gegen Ungarn und Polen eingesetzt werden?
Theoretisch könnten versucht werden, den neuen Rechtsstaatsmechanismus ab Januar auf die Vergabe von Mittel aus dem Nothaushalt anzuwenden. Ob das Verfahren rechtlich zum Beispiel eine signifikante Kürzung von Agrarsubventionen ermöglicht, ist aber fraglich. Diskutiert wird auch, ob die Corona-Hilfen über eine zwischenstaatliche Vereinbarung ohne Ungarn und Polen organisiert werden könnten. Dann hätten die Regierungen dort kein gutes Druckmittel mehr in der Hand.
Warum werden Polen und Ungarn nicht einfach aus der EU geworfen?
Das ist rechtlich schlicht und einfach nicht erlaubt. Im EU-Vertrag ist allerdings die Möglichkeit einer Suspendierung der Stimmrechte vorgesehen, sollte ein Mitgliedstaat schwerwiegend und anhaltend gegen EU-Werte verstoßen. Das entsprechende Verfahren nach Artikel 7 wurde gegen Ungarn und Polen schon vor längerer Zeit gestartet.
Es kam aber bislang nicht voran, weil etliche Mitgliedstaaten keine weitere Eskalation des Konflikts mit den beiden Ländern riskieren wollten. Weil es so schwerwiegende Sanktionen wie einen Stimmrechtsentzug möglich macht, wird das Artikel-7-Verfahren in Brüssel auch als "Atombombe" bezeichnet.
Könnte sich die Einstellung von EU-Staaten zur "Atombombe" jetzt ändern?
Wenn Ungarn und Polen ihre Blockade nicht bald aufgeben, ist das denkbar. Sollten dann die Stimmrechte der beiden Länder im Rat der EU aufgehoben werden, könnte auch das EU-Finanzpaket beschlossen werden. Es besteht allerdings das große Risiko, dass ein solcher Schritt eine tiefe Spaltung der EU zur Folge haben könnte.
Gibt es noch andere Lösungsmöglichkeiten für den Streit?
Theoretisch wäre auch ein Kompromiss im Streit um den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus möglich. Das Europaparlament und Länder wie die Niederlande haben allerdings bereits angekündigt, dass sie keine Abschwächung des geplanten Verfahrens akzeptieren würden. Entsprechend gering ist die Hoffnung, dass schon bei der Videokonferenz der Staats- und Regierungschefs heute Abend eine Lösung gefunden wird.
Welche Rolle spielt die derzeitige deutsche Ratspräsidentschaft?
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die anderen Regierungsmitglieder sind derzeit mehr denn je als Vermittler gefragt. Während der Ratspräsidentschaft ist es ihre Aufgabe, Kompromisse für die verschiedenen Positionen der EU-Mitgliedstaaten zu finden. Zugleich muss sich die Bundesregierung fragen lassen, ob sie die Entscheidungsprozesse nicht hätte anders organisieren können, um die Blockade zu verhindern.
Ungarn und Polen haben stets deutlich gemacht, dass sie ein Verfahren zur Bestrafung von Rechtsstaatsverstößen bekämpfen werden. "Die Rechtsstaatlichkeit und Rechtsstaatsverstöße sind in der EU zum Propaganda-Knüppel geworden", sagte Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki am Mittwoch. Sein Land sei nicht in eine EU eingetreten, in der eine "europäische Oligarchie" die Schwächeren bestrafe. Eine solche EU habe keine Zukunft vor sich. (awa/dpa)
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