In der Türkei bahnt sich ein Machtkampf zwischen Ministerpräsident Ahmet Davutoglu und Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan an. Was dahinter steckt, ob Erdogan seinen einst treuen Weggefährten loswerden will und wie er an der politischen Ordnung der Türkei rüttelt - Antworten eines Experten.

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Geht der einstige Erdogan-Kompagnon aus Protest gegen seinen früheren Förderer? Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu denkt übereinstimmenden Medienberichten zufolge über einen Rücktritt nach. Er habe sich in dieser Frage noch nicht entschieden, sagte der Regierungschef laut "Hürriyet" und "Cumhuriyet".

Anlass sei ein Machtkampf zwischen Davutoglu und Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, heißt es. Erdogan soll darüber nachdenken, Davutoglu durch Energieminister Berat Albayrak zu ersetzen, einen seiner Schwiegersöhne. Was steckt dahinter und welches Ziel verfolgt Erdogan? Unsere Redaktion fragte bei Islamwissenschaftler und Türkei-Kenner Dr. Udo Steinbach nach.

Erdogan gegen Davutoglu - was hinter dem Machtkampf steckt

Erdogan "installierte" Davutoglu im Sommer 2014 bei seinem Abgang als Regierungschef als vermeintlich getreuen Nachfolger. Jetzt sieht alles danach aus, als lasse er ihn fallen, indem er ihm den Rückhalt durch die alleine regierende AKP entzieht.

"Ich gehe davon aus, dass es tiefgreifende Differenzen gibt. Das betrifft einmal den Politikstil. Davutoglu muss sich hinters Licht geführt fühlen, weil Erdogan ständig gegen die Verfassung handelt", meint Türkei-Experte Steinbach. "Bei ihm hat sich sicher enorm Frust aufgebaut."

Staatspräsident Erdogan, der eigentlich rein repräsentative Aufgaben habe, führe die Regierung, die vom Ministerpräsidenten, also Davutoglu, geführt werden müsste, erklärt Steinbach. Außerdem verfolge Erdogan mit Nachdruck eine Verfassungsänderung für die Stärkung seines Amtes.

"Das wird von Davutoglu definitiv nicht geteilt. Ab dieser Stelle ist es nicht mehr nur ein Konflikt zwischen diesen beiden Herrschaften, sondern zwischen der AKP und Davutoglu", so Steinbach. Die Partei stünde demnach mehrheitlich hinter Erdogan, "das Ganze ist zu einer Erdogan-Show geworden. Davutoglu fühlt sich an die Seite gestellt." Zum Beispiel sei ihm die Möglichkeit genommen worden, Kandidaten für Ministerämter vorzuschlagen.

Das präsidiale System sei Erdogans Ziel, erklärt Steinbach. "Erdogan geht es darum, bis 2023, also bis zum hundertjährigen Bestehen der Republik, eine neue Türkei zu formieren. Eine Türkei, die stark ist und durch einen starken Präsidenten sowie die islamische Religion geprägt ist. Das wird er nur durch eine Verfassungsänderung bewerkstelligen können, durch eine Verfassung, die stärker islamisch eingefärbt sein wird."

Doch wie wahrscheinlich ist es, dass Erdogan dieses Ziel erreichen wird? Es gibt verfassungsrechtliche Schranken. Erdogan muss entweder eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament haben. "Die hat er nicht", erklärt Steinbach. Oder er könne noch in ein Referendum gehen und "weiter eine Politik der Demütigung Europas verfolgen, die in der Türkei gar nicht so schlecht ankommt".

Damit wolle er die Leute für sich gewinnen, meint der Islamwissenschaftler, indem er ihnen zeige, dass er zum Beispiel in der Flüchtlingskrise Herr im Haus sei und nicht Bundeskanzlerin Angela Merkel. "Wenn er das umsetzt, glaubt er für ein Referendum die absolute Mehrheit der Türken hinter sich zu haben", sagt Steinbach.

"Erdogan weiß, dass er momentan noch nicht alle Karten für eine Verfassungsänderung in der Hand hat. Also tut er das, was naheliegend ist: Er versucht die Türken davon zu überzeugen, dass die Republik mit einer stark präsidialen Verfassung die beste aller Welten ist."

Dr. Udo Steinbach, Jahrgang 1943, ist Doktor der Islamkunde. 1975 leitete der Wissenschaftler die Redaktion der Deutschen Welle in der Türkei, zwischen 1976 und 2006 war er Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg und bis Januar 2008 Direktor des GIGA-Instituts für Nahoststudien, ebenfalls in Hamburg.
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