Historiker haben herausgefunden: die "Trümmerfrauen" von Wien sind ein Mythos. Vielmehr waren es Ex-Nazis, die den Schutt beseitigten.

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Die "Trümmerfrauen", die in Wien nach dem Zweiten Weltkrieg selbstlos Schutt beseitigten, sind ein Mythos. Wie Historikerinnen und Historiker der Akademie der Wissenschaften (ÖAW) anhand bisher kaum beachteter Quellen zeigen, wurden vor allem ehemalige NSDAP-Mitglieder für die Aufräumarbeiten verpflichtet. Der im Fachjournal "Austrian History Yearbook" erschienenen Studie zufolge entstand erst ab den 1990er-Jahren die mystifizierende Erzählung der "Trümmerfrauen".

Das Bild des selbstlosen Einsatzes von Frauen, die in den ersten Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs dessen Spuren in Wien wegräumten und damit den Weg für den Wiederaufbau freimachten, ist in vielen Köpfen fest verankert, wird aber von Expertinnen und Experten schon lange kritisch hinterfragt. Zuletzt entzündete sich die Debatte 2018, als der damalige Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) ein auf Initiative des FPÖ-nahen Cajetan-Felder-Instituts geschaffenes "Trümmerfrauen"-Denkmal auf der Mölker-Bastei in Wien-Innere Stadt enthüllte.

Thematik mangels Quellen nebulös

"Die Trümmerfrauen-Thematik in Österreich ist recht nebulös, weil es sehr wenige Quellen gibt", erklärte Martin Tschiggerl vom Institut für Kulturwissenschaften der ÖAW gegenüber der APA. Gemeinsam mit seinen Kolleginnen Lea von der Hude und Patricia Seifner hat er bisher kaum ausgewertete Akten aus dem Wiener Stadt- und Landesarchiv analysiert, um die Nebel um die angebliche freiwillige Frauenarbeit zu lichten.

Untersucht haben die Historikerinnen und Historiker rund 7.000 Ansuchen um Entschädigung von zwangsverpflichteten Nationalsozialisten. Hintergrund dieser Ansuchen war ein im August 1945 von der provisorischen österreichischen Bundesregierung verabschiedetes Gesetz, das ehemalige NSDAP-Mitglieder zu Sühnemaßnahmen im Wiederaufbau verpflichtete. "In der unmittelbaren Nachkriegszeit gab es nicht nur einen Mangel an potenziellen Arbeitskräften, sondern auch einen Mangel an Bereitschaft in der Bevölkerung, sich überhaupt an den Aufräumungsarbeiten in der zerstörten Stadt zu beteiligen", so Tschiggerl. Die gesetzliche Arbeitspflicht sollte da Abhilfe schaffen.

67 Groschen für Frauen und 84 Groschen für Männer

Nachdem in Folge von derart verpflichteten Arbeiterinnen und Arbeitern eine Reihe von Klagen auf Entschädigung eingebracht wurden, entschied der Oberste Gerichtshof 1951, dass ihnen eine Bezahlung für die geleisteten Arbeitsstunden zustehe: und zwar 67 Groschen pro Stunde für Frauen und 84 Groschen für Männer.

"In diesen Ansuchen um Entschädigung finden sich teilweise sehr umfangreiche Schreiben mit Schilderungen der Antragsteller, wann, wo und was sie gearbeitet haben", so der Historiker. "Als ehemaliger Nationalsozialist ... habe ich am schwersten gelitten", zitieren die Forscherinnen und Forscher im Titel ihrer Arbeit ein Beispiel aus den Ansuchen.

Entschädigung für Millionen Arbeitsstunden

Auf Basis dieses sehr umfangreichen Bestands schätzt Tschiggerl, dass Millionen an Arbeitsstunden entschädigt wurden. Wie viele ehemalige NSDAP-Mitglieder tatsächlich im Arbeitseinsatz waren, sei schwer zu sagen, die Ansuchen dürften aber nur die Spitze des Eisbergs darstellen: "Wir gehen davon aus, dass maximal zehn bis 20 Prozent der Sühnearbeiter um Entschädigung angesucht haben. Angesichts dieser Indizienkette bleibt nicht mehr viel über für freiwillige Arbeit selbstloser Frauen."

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Von den rund 7.000 dokumentierten Ansuchen stammten rund 55 Prozent von Männern und 45 Prozent von Frauen. "Das ist ein Ungleichgewicht, wenn man bedenkt, dass 1945/46 deutlich mehr Frauen in Wien waren als Männer, von denen viele noch in Gefangenschaft oder am Rückweg von der Front waren", sagte Tschiggerl. Unklar sei aber, wer um Entschädigung angesucht habe - waren es eher Männer, weil sie mehr Mut dazu hatten, oder eher Frauen, die vielleicht das Geld dringender benötigt haben?

Mystifizierende Erzählung

Der mit der historischen Realität wenig zu tun habende Mythos der "Trümmerfrauen" sei in Österreich erst später entstanden. So sei Ende der 1980er-Jahre eine große Debatte in Westdeutschland über die Schlechterstellung von Frauen im Rentengesetz nach Österreich geschwappt. "Ab den 1990er-Jahren ist dann mit der Erosion der These von Österreich als Opfer das Trümmerfrauen-Narrativ als neue Opfererzählung aufgekommen: Wenn schon nicht alle Österreicher Opfer waren, dann sollten es zumindest alle Frauen gewesen sein", so Tschiggerl über die "vor allem von politisch rechter und konservativer Seite aufgenommene mystifizierende Erzählung".

Neben der im "Austrian History Yearbook" (Cambridge University Press) erschienenen Publikation wird im Sommer bei Böhlau eine Monographie Tschiggerls zu dem Thema erscheinen. Ihr Titel: "Ruinen der Erinnerung. Die Suche nach der österreichischen Trümmerfrau". (apa/bearbeitet von nap)