In den Medien des Westens werden die Terroranschläge von Paris als historische Zäsur wahrgenommen. Aber wie denkt die arabische Welt über die Anschläge des sogenannten "Islamischen Staates" (IS) in der französischen Hauptstadt?
Der Journalist und Publizist
Im Interview mit unserer Redaktion erklärt er, warum viele Reaktionen auf den Terror in Paris anders ausfallen als bei vergangenen Terroranschlägen. Wenn auch gerade das Echo in den sozialen Medien nicht repräsentativ ist, so findet der Experte eine auffällige Entwicklung zutiefst besorgniserregend.
Herr Schreiber, wie präsent sind die Terroranschläge von Paris in arabischen Medien?
Constantin Schreiber: Das Thema ist natürlich in den Nachrichtensendern sehr präsent, weil die über wichtige Ereignisse mit Breaking-News-Sendungen berichten. Auch in den Meinungsforen kommen die Attentate von Paris vor, aber es ist häufig nur ein Thema unter vielen.
Die arabische Welt hat derzeit so viele Baustellen, da ist der Krieg in Syrien zum Beispiel oder das Auseinanderbrechen des Jemen. Es gibt so viele Schauplätze, dass der Terror in Europa zunächst nicht das wichtigste Ereignis war.
Inzwischen hat das doch eine etwas andere Tonalität bekommen. Es wird viel darüber gesprochen, was das jetzt für die Muslime in Frankreich bedeutet, dass jetzt dort die Moscheen in den Fokus geraten.
Das Thema ist weggekommen von einer nachrichtlichen Berichterstattung über die Ereignisse zu einer sehr nahöstlich gefärbten Berichterstattung.
Inwiefern?
Natürlich ist es für die Menschen im Nahen Osten wichtig, zu erfahren, welche Auswirkungen das auf sie hat, auf ihre Kultur und auf ihr Leben in der Region - und was jetzt passiert, wenn Frankreich sich außenpolitisch anders einbringt.
Andererseits hat sich das deutlich verändert im Vergleich zu früheren Anschlägen, wo man der westlichen Welt wesentlich mehr Beileid bekundet hat - oder auch viel mehr über das Phänomen Terror als solches berichtet hat. Das ist dieses Mal nicht mehr so der Fall.
Was bedeutet denn dieser Angriff des sogenannten IS auf Europa für die arabische Welt, wird das auch dort als Zäsur wahrgenommen?
Nein so richtig als Zäsur wird das nicht wahrgenommen. Es wird schon erwartet, dass es von Seiten des Westens größere Bemühungen geben wird, gegen den IS vorzugehen.
Aber die meisten Menschen im Nahen Osten gehen davon aus, dass es ohne Bodentruppen gar nicht möglich ist, größere Erfolge zu erzielen.
Ob man jetzt mehr Bomben wirft oder weniger, das wird den IS nicht besiegen, glaubt man. Gleichzeitig sehen die meisten realistischerweise, dass weder die USA noch Europa zum Einsatz von Bodentruppen in Syrien bereit sind.
Wie ist die Stimmung in Blogs und sozialen Netzwerken?
Dort erkennt man auf gesellschaftlicher Ebene tatsächlich eine Zäsur. Entgegen früherer Anschläge im Westen muss man mittlerweile feststellen, dass in den sozialen Netzwerken der Hass auf den Westen sich kübelweise ergießt.
Die Tweets oder die Meldungen, in denen gesagt wird, das tut uns leid, die muss man wirklich suchen. 95 Prozent der Beiträge sind Aussagen wie, "mehr Bomben!", "jetzt richten wir sie hin", "schlachtet die Ungläubigen ab".
Das ist nur Hetze, das ist sehr oft äußerster Extremismus, der sich dort entlädt. Allerdings haben wir genau dieses Phänomen auch in Deutschland, dass bei Facebook oder Twitter extremistisch gesinnte Menschen glauben, sie könnten dort ungestört ihr Gedankengut abladen.
Was sind denn die Ursachen für diesen Hass auf den Westen und speziell auf Europa?
Das liegt natürlich auch daran, dass Staaten wie Frankreich und Großbritannien eine lange Kolonialvergangenheit haben. Gerade im Falle von Frankreich mit dem Algerienkrieg, der eine sehr blutige Angelegenheit war und bei dem tausende Araber durch französische Soldaten getötet worden sind.
Da gibt es auch in den sozialen Netzwerken tatsächlich noch eine Menge Aufrechnung, nach dem Motto, "damals habt ihr unsere Kinder abgeschlachtet, jetzt seid ihr an der Reihe".
Gleichzeitig wird gesagt, was sind denn 129 Tote im Vergleich zu über 200.000 in Syrien.
Das wird auch ganz klar aufgerechnet, da heißt es dann, "was stellt ihr euch denn so an, ihr schaut zu, wie Tausende Araber abgeschlachtet werden und jetzt jammert ihr wegen der paar Toten".
Solche Haltungen sind auch in den professionellen Medien zu finden, wenn auch nur unterschwellig.
Wie wird denn der sogenannte IS allgemein in der arabischen Öffentlichkeit wahrgenommen? Gibt es Sympathie?
Ja, die gibt es sicherlich. Andererseits ist der IS natürlich auch vielen Arabern wieder unheimlich. Trotzdem gibt es auch Zustimmung. Sie finden bei Twitter und Facebook ganze Accounts, die die Flagge des IS tragen. Und das wird dann von vielen Nutzern bejubelt.
Andererseits sagen auch sehr viele Araber, dass der IS nichts mit dem Islam zu tun habe, und das nicht nur, weil er auch Muslime abschlachtet.
Je konkreter es um die Organisation als solche geht, desto differenzierter wird auch das Meinungsbild. Aber es ist in der Tat keineswegs so, dass alle gegen den IS wären.
Wie repräsentativ ist denn das Stimmungsbild, das man unter anderem in den sozialen Netzwerken bekommt?
Es ist natürlich das selbe Phänomen wie bei uns, die Extremisten trommeln im Netz natürlich am lautesten. Es ist natürlich schwierig, aus den Facebook-Posts Rückschlüsse darüber zu ziehen, wie groß die empirische Meinungsverteilung ist.
Aber eines kann man doch sagen: Diese Haltungen im Netz, die hat es bei vorherigen Anschlägen so nicht gegeben. Das ist tatsächlich ein Indiz dafür, dass irgendetwas diesmal anders ist - und dass angesichts der Katastrophen in Syrien, Jemen und anderer Staaten die allgemeine Stimmung kippt.
Es zeigt, dass sich der Westen und die arabische Welt immer weiter entfremden - und das trotz sehr vieler entgegengesetzter Bemühungen, zum Beispiel in Deutschland. Das ist eine sehr besorgniserregende Entwicklung.
Was müsste der Westen denn aus Ihrer Perspektive tun, um zu einer Annäherung zu kommen? Man lebt in Deutschland ja immer gerne in der Illusion, wenn alle nett zueinander sind, dann klappt das schon.
Nein, das klappt nicht. Und es herrscht auch in der Tat mittlerweile auf allen Ebenen Ratlosigkeit, weil die Mechanismen und Werkzeuge ausgehen, mit denen man noch probieren kann, so etwas wie eine friedliche Koexistenz herzustellen.
Gerade in Deutschland haben wir ja sehr viel gemacht, Stichwort Islam-Konferenz, Zentralrat der Muslime usw. Das Land ist da sehr aktiv, hat aber auch glücklicherweise noch keinen Terroranschlag erlebt.
Aber wir erleben ja trotzdem diese Entfremdung zwischen dem Westen und der arabischen Welt.
Ich habe leider die Befürchtung, dass diese Entwicklung mittelfristig zu mehr Abschottung nach Außen und zur Rückkehr von als überwunden geglaubten Stereotypen im Inneren führen wird.
Der Journalist und Publizist Constantin Schreiber spricht fließend Arabisch und gilt als Experte für die arabische Welt. Von 2009 bis 2011 war er im Auswärtigen Amt als Medienberater für den Nahen Osten tätig. Von 2007 bis 2009 arbeitet er als Korrespondent des arabischen Programms der Deutschen Welle in Dubai. Heute berichtet er unter anderem als Experte für die Region für n-tv.
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