Swetlana Tichanowskaja ist das bekannteste Gesicht der belarussischen Opposition. Im Interview mit unserer Redaktion erklärt sie, wie der Widerstand gegen die Regierung von Alexander Lukaschenko im Verborgenen stattfindet – und wie Belarus zum russischen Krieg gegen die Ukraine steht.

Ein Interview

Im Sommer 2020 erlebte Belarus die größten Massenproteste seit der Unabhängigkeit der früheren Sowjetrepublik 1991. Zuvor hatte sich Dauermachthaber Alexander Lukaschenko zum Sieg einer höchst umstrittenen Präsidentenwahl erklärt.

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Und heute? Lukaschenko hat die Proteste niederschlagen und zahlreiche politische Gegner in Haft stecken lassen. In Russlands Krieg gegen die Ukraine steht er fest an der Seite des russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Swetlana Tichanowskaja sagt trotzdem: Lukaschenko ist in einer schwachen Position. Tichanwoskaja war seine Gegenkandidatin bei der Präsidentschaftswahl 2020 und musste kurz danach mit ihren Kindern das Land verlassen. Ihr Mann ist noch immer in Belarus in Haft. Am Montag hält die 40-Jährige auf Einladung der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit in Berlin die "17. Berliner Rede zur Freiheit". Im Vorfeld hat sie mit unserer Redaktion gesprochen.

Frau Tichanowskaja, 2020 haben die Demonstrierenden in Belarus einen unheimlichen Durchhaltewillen gezeigt. Sie sind immer wieder auf die Straße gegangen – obwohl die Regierung die Proteste niedergeschlagen hat. Allerdings ist Alexander Lukaschenko immer noch an der Macht. Ist die Oppositionsbewegung gescheitert?

Swetlana Tichanowskaja: Natürlich nicht. Vielleicht ist das von anderen Ländern aus nicht sichtbar, weil es nicht mehr diese großen Kundgebungen auf den Straßen gibt. Aber unser Widerstand geht weiter. Wegen der massiven Unterdrückung findet er zum größten Teil im Verborgenen statt. Hunderttausende sind ins Exil geflohen, um von dort aus weiterzukämpfen. Wir geben nicht auf. Wir werden von Belarus aus mit Informationen versorgt. Zum Beispiel mit Aufnahmen von russischen Waffen, die in Belarus stationiert werden. Cyber-Partisanen sind in Belarus aktiv.

Trotzdem gibt es keine Anzeichen, dass Lukaschenko von der Macht weichen will.

Lukaschenko will uns mundtot machen, damit wir der Welt nicht zeigen können, was im Land vor sich geht. Er gehorcht Putin, obwohl das erniedrigend für ihn ist. Er verkauft unsere Unabhängigkeit. Nicht wir sind gescheitert – er ist in einer schwachen Position. Aber er hat immer noch die Möglichkeit, Menschen einzuschüchtern, zu unterdrücken und zu quälen. Jeden Tag werden im Schnitt 22 Menschen in Belarus verhaftet. Jeden Tag!

Swetlana Tichanowskaja: "86 Prozent der Belarussen sind gegen diesen Krieg"

Wie hat die russische Invasion im Nachbarland Ukraine die Opposition in Belarus beeinflusst?

Wir sind gegen diesen Krieg und wir stehen an der Seite der Ukraine. Partisanen haben in Belarus zum Beispiel Schienenwege sabotiert, die die russischen Streitkräfte benutzen. Lukaschenko hat es zugelassen, dass unser Land in diesen Krieg hineingezogen wird. Das belarussische Regime und das belarussische Volk sind aber zwei unterschiedliche Dinge. 86 Prozent der Belarussen sind gegen diesen Krieg. Natürlich wirkt die russische Propaganda auch in unserem Land. Russland will den Belarussen weismachen, dass die Ukrainer unsere Feinde sind. Oder dass die Polen unsere Feinde sind und Belarus überfallen wollen. Deswegen ermutigen wir die Menschen, andere Medien als das belarussische Staatsfernsehen zu nutzen.

Russland hat inzwischen sogar Atomwaffen in Belarus stationiert. Wie reagieren die Menschen in Ihrem Heimatland darauf?

Wir sind dagegen. Wir erinnern uns alle an die Katastrophe von Tschernobyl – darunter leiden wir noch immer. Die Nuklearwaffen werden von Russland kontrolliert. Russland wird seine Präsenz in unserem Land noch weiter verankern. Die Menschen in Belarus können das aber nicht alleine verhindern. Auch mächtige Staaten wie Deutschland und die USA müssen alles Mögliche unternehmen, um uns zu helfen.

Sie leben jetzt mehr als zweieinhalb Jahre im Exil. In Ihr Heimatland können Sie derzeit nicht zurückkehren, dort sind Sie in Abwesenheit wegen Hochverrats verurteilt worden. Ihr Mann ist dort in Haft. Wie halten Sie das durch?

Natürlich ist das schwer. Wir als Oppositionsbewegung versuchen, den Menschen in Belarus zu helfen – aber auch den Geflohenen im Exil. Wir müssen die demokratische Bewegung vereinen und wir arbeiten hart daran, dass die Menschen im Exil sich nicht von den Menschen in Belarus entfernen. Wir Exilanten sind die Stimme von neun Millionen Belarussen innerhalb des Landes, die vom Regime als Geiseln gehalten werden.

Haben Sie weiterhin Hoffnung, dass es doch eines Tages einen Regimewechsel in Belarus geben wird?

Ich hoffe das nicht nur, ich bin mir sicher. Wir müssen das Regime dauerhaft unter Stress halten. Die belarussische Zivilgesellschaft mag zwar selbst unter Druck stehen, aber sie wird nicht aufgeben. Sie ist in einem Stand-by-Modus. Sie will den Wechsel, sie kann diesen Willen im Moment nur nicht laut kundtun. Ihr Schicksal hängt auch vom Ergebnis des Krieges in der Ukraine ab.

Inwiefern?

Ein Sieg der Ukraine wird den Kreml schwächen – und der Kreml unterstützt Lukaschenko. Wir müssen für diesen Moment vorbereitet sein. Wir dürfen nicht dasitzen und warten. Wir müssen der Ukraine helfen und das belarussische Regime weiterhin von innen und von außen unter Druck setzen.

Zur Person: Swetlana Tichanowskaja wurde 1982 in der damaligen belarussischen Sowjetrepublik geboren. Ihr Mann Sergei Tichanowski kündigte im Frühjahr 2020 an, gegen den autoritären belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko zu kandidieren. Daraufhin wurde er verhaftet. Daher trat seine Frau Swetlana Tichanowskaja am 9. August 2020 gegen Lukaschenko an und erreichte dem offiziellen Ergebnis zufolge 10,1 Prozent der Stimmen. Unabhängige Wahlbeobachter kritisierten aber bereits im Vorfeld zahlreiche Verstöße gegen die Grundsätze freier und fairer Wahlen. Tichanowskaja erkannte ihre Niederlage nicht an und bezeichnet sich heute als Kopf der Übergangsregierung von Belarus. Sie musste 2020 aus Belarus fliehen und lebt seitdem mit ihren beiden Kindern im Exil.
In einer früheren Version dieses Interviews wurde Alexander Lukaschenko als Präsident von Belarus bezeichnet. Dieser Titel ist inzwischen entfernt, weil Lukaschenkos Wahlsieg 2020 von zahlreichen Staaten (unter anderem Deutschland) nicht anerkannt wurde.
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