80 Jahre nach dem "Anschluss" an Nazi-Deutschland gedenkt Österreich der Opfer und ist selbstkritisch wie selten. Antisemitismus soll keinen Platz mehr haben. André Heller findet eindringliche Worte.
"Wo ist der Jud' Stephan Heller?" Unmittelbar nach dem "Anschluss" Österreichs an Nazi-Deutschland läutete es an der Tür des Schokoladenfabrikanten Heller in Wien.
Die Hausdame konterte: "Die Herrschaften empfangen nur nach Voranmeldung." Das nützte nichts. Mit der Bemerkung: "Wir kommen prinzipiell unangemeldet" drangen die Nazi-Schergen ins Haus ein und verhafteten den Unternehmer.
André Hellers Familie wurde verfolgt
Anhand der eigenen Familiengeschichte erinnerte der Künstler André Heller beim Staatsakt in Wien in seiner Rede an den 80. Jahrestag des "Anschlusses" und dessen Folgen.
Bundespräsident Alexander Van der Bellen brachte es auf den Punkt. "Das dunkelste Kapitel in der Geschichte Österreichs wurde aufgeschlagen."
Mit großem Nachdruck bekannte sich Österreichs Staats- und Regierungsspitze am Montag zu einer Mitverantwortung des Landes an den nationalsozialistischen Gräueltaten. "Österreicher waren nicht nur Opfer, sondern auch Täter, oft in führenden Positionen", sagte Van der Bellen.
Bundeskanzler Sebastian Kurz nannte die 1938 sofort einsetzende Verfolgung der Juden den Beginn eines "beispiellosen Leidenswegs, der uns bis heute beschämt und betroffen macht". Die Regierung werde sich dafür einsetzen, dass in Wien ein Mahnmal mit den Namen aller 66.000 jüdischen Opfer entstehe, kündigte Kurz an.
Israelitische Kultusgemeinde stört sich an Burschenschaftern in Regierung
Ein Schritt, der nach Ansicht der Israelitischen Kultusgemeinde "nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass mit der FPÖ rechtsextreme Burschenschaften mitregieren, die den rassischen Antisemitismus erfunden haben, den 'Anschluss' als Erlösung feierten und die Befreiung 1945 als Niederlage betrauerten", sagte der Vorsitzende der Gemeinde, Oskar Deutsch, im Vorfeld der "Kronen-Zeitung".
Am 12. März 1938 hatte die deutsche Wehrmacht unter dem Jubel der Bevölkerung die österreichische Grenze überschritten.
Am 15. März verkündigte Adolf Hitler auf dem Wiener Heldenplatz den "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich. Der Schritt war eine wesentliche Etappe auf dem Weg in den Zweiten Weltkrieg - und der auch in Wien entfesselte Antisemitismus ließ die drohenden Abgründe ahnen.
"Es war ein Hexensabbat des Pöbels und ein Begräbnis aller menschlichen Würde", zitierte Heller den Schriftsteller Carl Zuckmayer.
Van der Bellen: "Gibt keine Entschuldigung für Wegschauen"
Van der Bellen nutzte den Gedenkakt zu einer Lehrstunde und mahnte die heutigen Generationen, den Rechtsstaat und die Menschenrechte mit großer Wachsamkeit zu beschützen. "Es gibt keine Entschuldigung für selbstverschuldete Unwissenheit, für Wegschauen, für historische Ignoranz, für Relativierungen", sagte der Bundespräsident.
Ohne das Wort Islamismus in den Mund zu nehmen, machte Kurz deutlich, dass auch bei muslimischen Flüchtlingen keine Judenfeindlichkeit toleriert werde. "Es ist unsere Pflicht, gegen jede Form des Antisemitismus anzukämpfen, ganz gleich, ob schon lange vorhanden oder gerade frisch importiert."
Alle Redner betonten, wie schwer sich Österreich jahrzehntelang damit getan habe, seine Mitschuld am NS-Regime und an dessen Gräueltaten einzuräumen.
Nach Ende des Krieges seien die 130.000 vertriebenen Juden nicht eingeladen worden, nach Österreich zurückzukehren, sagte Heller. "Es gab auch kaum Schuldgefühle ihnen gegenüber."
Erst 1991 habe der damalige Kanzler Franz Vranitzky (SPÖ) offen als erster führender Politiker die Mitverantwortung des Landes thematisiert.
André Heller plädiert für Solidarität
Heller rief dazu auf, Solidarität mit den Schwachen und Verfolgten auch wirklich zu leben. "Wir haben den Haupttreffer in der Geburtsort-Lotterie gewonnen. Nun müssen wir bereit sein, faire Preise zu bezahlen und permanent etwas abzugeben."
Haltungen wie "Amerika zuerst" oder "Österreich zuerst", wie sie maßgeblich die FPÖ pflegt, führten in die Irre. "Die Weltmuttersprache ist und sollte das Mitgefühl sein." © dpa
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