Einen Tag nach der EU-Wahl wird Österreich am Montag höchstwahrscheinlich ohne Regierung dastehen. Die SPÖ bringt in der laufenden Nationalratssondersitzung einen Misstrauensantrag gegen die gesamte Regierung ein. Darauf hat sich der SPÖ-Klub am Montag laut Parteichefin Pamela Rendi-Wagner einstimmig festgelegt. Der designierte FPÖ-Obmann Norbert Hofer kündigte die Zustimmung seiner Fraktion an.

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Grund für den Misstrauensantrag sei, dass Kurz seiner Verantwortung nicht nachgekommen sei, eine stabile Übergangslösung mit einer Mehrheit im Parlament zu suchen, sagte Rendi-Wagner.

Dies sei ein "Versäumnis, das hat es in Geschichte der Zweiten Republik so noch nicht gegeben. Dieser Fehler darf nicht wieder begangen werden, es braucht eine stabile Lösung bis zur Neuwahl", sagte sie.

Die FPÖ wird dem Misstrauensantrag der SPÖ gegen die gesamte Regierung zustimmen. Dies sei bei einer Klubsitzung am Montag einstimmig beschlossen worden, bestätigten mehrere freiheitliche Abgeordnete gegenüber der APA. Zudem wurden Norbert Hofer und Herbert Kickl zu den neuen blauen Klubchefs gewählt.

Keine Koalition zwischen SPÖ und FPÖ

Hofer bestätigte informelle Gespräche mit der SPÖ. Eine ausverhandelte Einigung oder so etwas wie eine Übergangkoalition mit der SPÖ gebe es nicht. "Es gibt keine Koalition. Es geht darum dass eine Expertenregierung gesichert ist", sagte er.

Auch SPÖ-Vizeklubchef Jörg Leichtfired unterstrich dies. "Es gibt keinen Pakt", der entsprechende Spin seitens der ÖVP sei "sowieso Schwachsinn". Man werde den Misstrauensantrag einbringen, "dann wird man sehen, ob es eine Mehrheit gibt".

Für die FPÖ ist klar, dass die Übergangsregierung nach dem Aus für das Kabinett Kurz über eine Mehrheit im Parlament verfügen muss. Entsprechend sei man auch im Kontakt mit Bundespräsident Alexander Van der Bellen, der dann ja am Zug sei, so Hofer. Wie schnell dies gehen werde, ließ er offen.

Wichtig für Hofer: "Wir haben eine hervorragende Bundesverfassung. Niemand muss fürchten, dass irgendwie die Regierungsgeschäfte nicht weiterlaufen." Auf parlamentarischer Ebene werde man versuchen, gemeinsame Anliegen mit den anderen Fraktionen zu finden. Ansonsten gelte bis zur Neuwahl der freie Spiel der Kräfte.

Schwere Vorwürfe gegen Kurz

Kurz vor dem Misstrauensantrag gegen den Kanzler erhebt die SPÖ noch schnell eine politische Anklage gegen Sebastian Kurz in Form einer "Dringlichen Anfrage" im Nationalrat. In der Begründung hält Klubchefin Rendi-Wagner ein Scherbengericht über den Kanzler.

Das "Experiment" von Kurz, mit der FPÖ eine Regierung zu bilden, habe nachhaltigen Schaden für die Demokratie, die Pressefreiheit, den Rechtsstaat, das internationale Ansehen Österreichs und den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft angerichtet, heißt es in der Begründung der "Dringlichen", die um 10.00 Uhr eingebracht wurde und ab 13.00 Uhr debattiert wird.

In der Amtszeit dieser Bundesregierung sei die Sozialversicherung zerschlagen, die 60-Stundenwoche eingeführt, der Verfassungsschutz international handlungsunfähig gemacht und die soziale Absicherung für kinderreiche Familien herabgesetzt worden. Für alle diese Dinge trage Kurz als Bundeskanzler die Verantwortung.

Kurz wird auch vorgehalten, dass er eigentlich nach dem Ibiza-Skandal mit den Freiheitlichen weiter machen hätte wollen: "Reiner Machterhalt und ein egozentrischer Grundzugang des Bundeskanzlers bestimmen seine Entscheidungen, die alle auf eine Frage hinauslaufen: Was nützt Sebastian Kurz am meisten?"

Schließlich wird noch einmal behauptet, dass der ÖVP-Chef auch im Zusammenhang mit der Neuwahl und der Bildung der Interimsregierung nicht genug Kontakt mit der SPÖ aufgenommen habe.

25 Fragen werden dem Kanzler sodann vorgelegt, wo Kurz etwa um Auskunft gebeten wird, ab wann er vom Ibiza-Video wusste und wann er den Neuwahl-Entschluss fällte. Auch ob der Verfassungsschutz in die Angelegenheit involviert war, will der SPÖ-Klub wissen.

Kabinett steht vor der Auflösung

Dann beklagt die SPÖ noch indirekt, dass die Entlassung von Innenminister Herbert Kickl (FPÖ) sowie die Bestellung von Finanzminister Hartwig Löger (ÖVP) zum Vizekanzler ohne Rücksprache mit den anderen Parteien erfolgt sei.

Direkt von Kurz als ÖVP-Chef wollen die Sozialdemokraten wissen, ob die Volkspartei in ihrem Naheverhältnis Vereine habe, die unter anderem der Parteienfinanzierung dienten.

Nach der Beantwortung der "Dringlichen" durch Kurz wird dann aller Wahrscheinlichkeit nach die SPÖ den Misstrauensantrag gegen die ganze Regierung einbringen und dafür Unterstützung von den Freiheitlichen erhalten. Damit dürfte das Kabinett irgendwann zwischen 16.00 und 17.00 Uhr Geschichte sein.

Der Misstrauensantrag ist für den Nationalrat das schärfste Mittel der Kontrolle. Nach einem Misstrauensvotum muss der Bundespräsident das betreffende Regierungsmitglied (bzw. die gesamte Regierung) des Amts entheben, ohne dass dafür eine besondere Begründung nötig wäre.

Nötig ist allerdings die Mehrheit in der Abstimmung. Und so kam es - obwohl es seit 1945 schon 185 Mal versucht wurde - noch nie dazu.

Bisher hatten alle Regierungen die Nationalratsmehrheit hinter sich. Auch wenn Koalitionen zerbrachen und Neuwahlen ausgerufen wurden, hielten sich die Abgeordneten der Regierungsfraktionen bis zur Neuwahl daran, nicht gegen noch im Amt befindliche Kanzler oder Minister zu stimmen.

Und umstrittene Regierungsmitglieder, denen der Vertrauensentzug drohte, traten immer zurück, ehe es dazu kam.  © APA

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