Im Oktober 1962 besetzten Polizei und Kriminalbeamte die Redaktion des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel". Der Vorwurf: Landesverrat. Die Aktion endete für die Ermittlungsbehörden im Desaster – dafür profitiert von der "Spiegel-Affäre" die Demokratie in Deutschland noch heute. Am Mittwochabend sendet die ARD um 20:15 Uhr zunächst den TV-Film "Spiegel-Affäre". Anschließend klärt die Dokumentation "Bedingt abwehrbereit" von Stefan Aust die Hintergründe der Affäre.

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Mitten in der Nacht stehen zwei dunkel uniformierte Polizisten vor dem Apartment im spanischen Torremolinos, wo Conrad Ahlers mit seiner Frau Urlaub macht. Der stellvertretende Chefredakteur des Spiegel musste die Reise schon mehrmals verschieben, nun will er sich endlich erholen. Doch daraus wird nichts. Als die Beamten klopfen, öffnet Ahlers im Schlafanzug, es ist drei Uhr morgens. Sie gestikulieren, er solle sich anziehen.

Es ist eine Verwechslung, denkt Ahlers. Doch der Protest nützt nichts, die Polizisten bringen ihn und seinen Frau in das zwölf Kilometer entfernte Málaga und stecken sie dort in eine nackte Zelle. Ahlers ahnt nicht, dass er in diesem Moment Teil der Ereignisse ist, die später als "Spiegel-Affäre" in die deutsche Geschichte eingehen werden.

Hausdurchsuchungen und Festnahmen

Ein paar Stunden zuvor hatten sich in Deutschland ähnliche Szenen abgespielt. Am Abend des 26. Oktobers 1962 besetzen Dutzende Polizisten und Beamte des Bundeskriminalamts die Redaktionsräume des Spiegels in Hamburg und Bonn. Sie haben einen Haftbefehl für Ahlers und den Herausgeber Rudolf Augstein, beide sind jedoch nicht in der Redaktion. Also beschlagnahmen die Beamten Tausende Dokumente und versiegeln alle Räume vom Archiv bis zur Besenkammer.

Zur gleichen Zeit werden die Privatwohnungen von Ahlers, Augstein und den beiden Chefredakteuren Claus Jacobi und Johannes K. Engel durchsucht, nach und nach insgesamt sieben Redakteure und Verlagsmitarbeiter verhaftet. Herausgeber Augstein stellt sich einen Tag später; er bleibt insgesamt 103 Tage in Untersuchungshaft. Das gesamte Vorgehen ist ein massiver Schlag gegen die Pressefreiheit.

Was war geschehen? Der Auslöser war die Spiegel-Titelgeschichte "Bedingt abwehrbereit" vom 8. Oktober 1962. In dem Artikel beschreibt Conrad Ahlers die Einschätzung der Nato, dass es Deutschland im Kriegsfall an Waffen und Soldaten mangeln würde. Die deutschen Truppen seien lediglich "zur Abwehr bedingt geeignet". Die Regierung war von dem Bericht geschockt. Ihr Vorwurf: Das ist Landesverrat. Einem kam das Ganze besonders gelegen: Franz Josef Strauß (CSU), damals Verteidigungsminister mit Ambitionen auf das Kanzleramt. Ihm waren Augstein und sein "Scheißhausblatt", wie er den Spiegel schon mal nannte, mit seinen kritischen Berichten ein Dorn im Auge. Nun sah er die Chance, ihm eins auszuwischen. Er war es auch, der die Verhaftung Ahlers durch die spanische Polizei in die Wege leitete.

Deutschland solidarisiert sich

Doch der Schlag gegen den Spiegel ging nach hinten los. Statt einzugehen, blühte er erst recht auf. Deutschlandweit solidarisierten sich Journalisten und Verlage mit dem Magazin und ermöglichten, dass es weiter produziert wird. Die Auflage schoss nach oben. Die Sympathie der Bevölkerung lag auf Seiten des Spiegels: Auf den Straßen und an den Universitäten wurde gegen das Vorgehen der Staatsmacht protestiert. Hinzu kam, dass sich in dem beschlagnahmten Material aus der Redaktion keinerlei Hinweise auf Landesverrat finden ließen.

Die Verfahren gegen Augstein, Ahlers und einen Offizier wurden nie eröffnet. Stattdessen gerieten die beteiligten Politiker in die Kritik. Strauß musste zugeben, ohne Befugnis die Verhaftung Ahlers angeordnet zu haben. Es folgte eine schwere Regierungskrise. Als sich Kanzler Konrad Adenauer (CDU) vor seinen Minister stellt, treten fünf Mitglieder seiner Regierung zurück. Strauß verzichtet schließlich auf seinen Posten – und damit auf die Chance aufs Kanzleramt.

Ein Meilenstein für die Pressefreiheit

Die Folgen der Spiegel-Affäre wirken bis heute nach. Einen "Glücksfall für die Entwicklung zur funktionsfähigen Demokratie" nennt der Dortmunder Journalismus-Historiker Horst Pöttker die Geschehnisse. "Die deutsche Gesellschaft und ihre Republik wären heute andere, wenn 1962 der Zugriff der Staatsgewalt auf den Spiegel in Öffentlichkeit und Politik unwidersprochen geblieben wäre", schreibt er. So aber wurde ein klares Zeichen gegen Staatswillkür gesetzt, ein Signal an die Regierung: So geht es nicht.

Außerdem war die Affäre ein Meilenstein für die Pressefreiheit. Der Staat bekam eine Lektion im Umgang mit freien Medien, und dass diese zu respektieren sind. Das Bundesverfassungsgericht betonte im Nachgang der Affäre in seinem Urteil vom August 1966 den notwendigen Schutz der Pressefreiheit für den Rechtsstaat. Ein Urteil, das noch heute die Rechtsprechung beeinflusst – und Journalisten unter anderem davor schützt, aus Willkür in ihrem Spanienurlaub verhaftet zu werden.

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