Stehen die Zeichen auf Neuwahlen? Verfolgt man das zunehmende Polit-Hick-Hack innerhalb der rot-schwarzen Regierung, verfestigt sich der Eindruck.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Julia Bieche sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

"Diese Koalition hält vielleicht noch ein paar Wochen." Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) soll das höchstpersönlich gesagt haben: So zitierte ihn das Boulevardblatt "Österreich" Ende September.

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Darauf, dass es mit der Koalition nicht mehr weit her sein könnte, deutet ein Umstand hin, der am Donnerstag bekannt geworden ist: Die SPÖ soll den Polit-Kampagnen-Guru Tal Silberstein beauftragt haben. Das meldet die Tageszeitung "Die Presse".

Silberstein arbeitete bereits für den israelischen Ex-Außenminister Ehud Barak, die ehemalige ukrainische Präsidentin Julia Timoschenko, führte 2001 den Wiener Landtagswahlkampf für Michael Häupl und managte später auch die Kampagne für Alfred Gusenbauer - über den Silberstein jetzt engagiert wurde.

Wozu einen Kampagnen-Experten engagieren, wenn die nächsten regulären Wahlen auf nationaler Ebene erst 2018 wären?

Streit über "links" und "rechts"

Nach einer kurzen Annäherung unmittelbar nach Kerns Amtsantritt am 17. Mai driften ÖVP und SPÖ nun wieder weit auseinander. Kürzlich verunglimpfte Finanzminister Hans Jörg Schelling (ÖVP) den Kanzler als "linken Ideologieträger".

Kern hatte den Regierungskollegen über die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" ausrichten lassen, das er ein Ende der EU-Sparpolitik und eine Einführung der Maschinensteuer fordere - und kritisierte als Reaktion auf Schellings Schelte die "rechte Ideologie" in der ÖVP.

Zetern über CETA

Auch die jüngste Diskussion um das Handelsabkommen mit Kanada - CETA - führte zu einem Koalitionszwist. Während Vizekanzler Reinhold Mitterlehner (ÖVP) von Beginn an zustimmte, wetterte Kern gemäß SPÖ-Parteilinie zunächst dagegen und forderte am Mittwoch eine verbindliche Zusatzerklärung der EU und Kanadas.

Nun ist das fünfseitige Papier eingetroffen. Im Gespräch mit dem ORF war sich Mitterlehner Donnerstagmittag sicher: "Das räumt auch die letzten Zweifel aus."

Kern hat sich bisher nicht dazu geäußert. Ob er tatsächlich einlenkt, ist unklar. Wenn nein, wäre CETA einer von vielen offenen Streitpunkten in der Regierung.

Die Asyl-Notverordnung

Grundsätzlich stehen SPÖ und ÖVP hinter dieser Maßnahme, doch der Zeitpunkt der Ausführung sorgt für Streitigkeiten. Die ÖVP - allen voran das Innenministerium - möchte die Asyl-Notverordnung so schnell wie möglich aktivieren. Am Donnerstag sagte Innenminister Wolfgang Sobotka (ÖVP), dass die Verordnung höchstens ein paar Tage in Kraft wäre.

Kanzler Kern will weiterhin abwarten. Seine Meinung: Die Verordnung werde heuer eventuell gar nicht gebraucht, weil 2016 erst 28.298 Asylanträge gestellt wurden. Bis zur Obergrenze von 37.500 sei noch Platz.

Billigjobs für Asylwerber

Uneinig sind sich Rot und Schwarz auch, was Billigjobs für Asylwerber angeht. Innenminister Sobotka und Sozialminister Alois Stöger (SPÖ) schieben sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu.

Offiziell geht es um eine fehlende Liste, die definieren soll, was Asylwerber arbeiten dürfen. Eigentlicher Streitpunkt ist der Stundenlohn: Sobotka, der sich vor kurzem noch für 5 Euro ausgesprochen hatte, korrigierte den Wert nach unten auf 2,50 Euro.

Sozialminister Stöger hält dies für einen "unproduktiven" Vorschlag und spielte den Ball an die Bürgermeister weiter: "Sie müssen entscheiden." SPÖ-Kanzleramtsminister Thomas Drozda befand "für eine Stunde Arbeit eines Menschen einen Betrag von 2,50 Euro obszön".

Gemeindebundpräsident Helmut Mödlhammer, selbst ÖVP-Mitglied, sagte in einem ORF-Interview am Dienstag allerdings: "Wir zahlen jetzt schon bis zu 6 Euro pro Stunde." Er sieht darin kein Problem und wartet auf eine Einigung.

Dauerbrenner Bildung und Pension

Das Thema Schulsystem sorgt seit fast zehn Jahren für einen Dauerzwist in der Koalitionsehe. Vor Kurzem hat sich die Koalition ein Zieldatum gesetzt, bis zu dem eine Neuordnung konzipiert werden soll: den 18. Oktober.

SPÖ-Bildungsministerin Sonja Hammerschmid soll sich bis dahin mit ÖVP-Staatssekretär Harald Mahrer über den Ausbau der Ganztagsbetreuungsschulen einigen. Differenzen herrschen noch beim Thema, ob Kinder mit schlechten Deutschkenntnissen in eigenen Klassen Deutsch lernen sollen.

Das Pensionssystem ist ein anderer verlässlicher Streitpunkt. ÖVP und SPÖ können sich nicht darüber einig werden, wem wie viel Geld zusteht und welche Kriterien dafür ausschlaggebend sein sollen.

Ein Pensions-Bonus wird auch diskutiert. Während die ÖVP freiwillig arbeitenden Pensionisten Geld zusprechen will, tritt die SPÖ für eine einmalige Auszahlung von 100 Euro für alle ein.

Zudem fordert die ÖVP einen "Gerechtigkeitsautomatismus". Demnach soll sich das Antrittsalter an demografischer Entwicklung, wirtschaftlichen Kennzahlen und Lebenserwartung orientieren. Ein klares Nein zu diesem Vorschlag kam von der SPÖ.

Was hat die Regierung 2016 geleistet?

"Bisher kann die Regierung auch unter neuer Zusammensetzung keine konkreten Ergebnisse vorweisen", schreibt der Politik-Chef der "Kronen-Zeitung", Claus Pándi. "Der neue Kanzler freut sich sichtbar, dass er Kanzler geworden ist. Der Vizekanzler freut sich, dass er noch immer Vizekanzler ist."

Mit dieser Meinung ist der Boulevard nicht allein. "Standard"-Redakteurin Petra Stuiber schreibt in einem Kommentar: "Statt einander mit kindischen 'Links'- und 'Rechts'-Vorwürfen totzuschlagen, sollte man jetzt tatsächlich mit einer grundlegenden Debatte beginnen. Will man sich ewig nur über Flüchtlingspolitik bekriegen und damit den Freiheitlichen den blauen Teppich ausrollen? Soll sich Politik auf tägliche koalitionäre Wetterbeobachtung beschränken?"

Wie realistisch ist ein Auseinanderbrechen der Koalition denn nun? Das kann so genau keiner beurteilen. Derzeit kann höchsten spekuliert werden. Für vorzeitige Neuwahlen spricht jedenfalls, dass sich SPÖ und ÖVP bereits von Wahlkampagnen-Experten beraten lassen.

Grüne und FPÖ finanziell geschwächt

Auch darüber, ob eine vorgezogene Wahl der Opposition in die Hände spielen würde, lässt sich trefflich spekulieren. Nach dem finanziell aufwändigen Präsidentschaftswahlkampf sind die Grünen und die FPÖ geschwächt.

SPÖ und ÖVP könnten das zu ihrem Vorteil nutzen. Dagegen sprechen allerdings aktuelle Umfragewerte. Auf der Website "Neuwal.com" zusammengetragenen Zahlen zufolge liegt die FPÖ in Wahlumfragen jetzt schon mit über 30 Prozent an erster Stelle. Das würde sich auch durch eine reduziertere Wahlkampagne nicht so schnell ändern.

Einen anderen Grund für Neuwahlen sah Peter Plaikner, Politanalyst und Lehrender an der Donau-Uni-Krems, schon im Sommer: In seinen Augen wäre eine vorgezogene Wahl 2017 vor allem für die ÖVP von Vorteil. Denn im Jahr 2018 stehen neben den Nationalrats- auch Landtagswahlen in Niederösterreich und Tirol an. Für beide Länder wäre ein schlechtes Abschneiden der Mutterpartei von Nachteil.

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