Der Verzicht auf eine erneute Kandidatur von Staatspräsident Macky Sall bei der im Februar 2024 anstehenden Präsidentschaftswahl hat im Senegal viele Menschen überrascht. Dass "diese Entscheidung für alle, die mit mir befreundet sind, eine Überraschung sein wird", wisse auch er.
Dass Sall nicht mehr kandidieren werde, verkündete er in einer Botschaft, die zuerst über sein Facebook-Konto in die Öffentlichkeit gelangte. Vermutet worden war, dass Sall sich ein drittes Mal zur Wahl stellen könnte in dem westafrikanischen Land. Mit seiner Ankündigung, nicht zu kandidieren, hat der 61-Jährige die ohnehin angespannte politische und gesellschaftliche Lage in dem traditionell als weitgehend stabil geltenden Land zumindest vorerst entschärft.
"Senegal ist größer als meine Person", erklärte Sall, "und es ist voller Leader, die genauso fähig sind, das Land voranzubringen." Diese deutlichen Worte überraschen. Denn Sall hat monatelang geschwiegen zu seinen weiteren Ambitionen in der senegalesischen Politik. Das sorgte für großen Unmut in der Bevölkerung und schweren Protesten mit mehreren Toten. "Hätte Sall früher seinen Verzicht erklärt, wären weniger Menschen gestorben", hört man aus der senegalesischen Diaspora.
Präsidentschaft ist auf zwei Amtszeiten begrenzt
Laut senegalesischer Verfassung ist die Amtszeit des Präsidenten auf zwei aufeinanderfolge Legislaturperioden beschränkt. Das ist auch breiter gesellschaftlicher Konsens, auf den die Menschen in Senegal vertrauen. Sall hätte also gemäß Verfassung gar nicht für die richtungsweisende und "wichtigste Wahl seit Jahren", wie es im Land heißt, kandidieren dürfen. Schließlich ließ Sall selbst, der seit 2012 den Sahel-Staat führt, die senegalesische Verfassung im Jahr 2016 ändern – mit Stimmen von seiner Koalition Benno Bokk Yaakaar (BBY, "in Hoffnung vereint"), der stärksten Kraft in der Nationalversammlung, dem senegalesischen Parlament in der Hauptstadt Dakar. Ziel der Verfassungsreform war die Begrenzung der Amtszeit des Präsidenten auf nur noch zwei Amtsperioden.
Es war also klar, dass Sall nicht nochmals zur Wahl stehen würde. Eigentlich. Für Irritationen sorgte zuletzt indes der Umstand, dass der erste Präsident Senegals, der nach der Kolonialzeit – und damit nach der Unabhängigkeit von Frankreich – geboren worden ist, noch im Juni erklärte, der Verfassungsrat des knapp 17-Millionen-Einwohner-Landes werde seine Kandidatur zulassen. Das heizte Spekulationen über eine dritte Amtszeit weiter an.
Sall ließ sich 2019 zu seiner zweiten Amtszeit wiederwählen, die nun formal die erste nach der Verfassungsreform von 2016 war. Damit ließ er die Frage seiner möglichen Kandidatur für 2024 bewusst offen. Für seine Anhänger war klar, dass seine erste Amtszeit ab 2012 unter der alten Verfassung nicht angerechnet werden sollte. Das sah das oberste Verfassungsorgan des Senegals offensichtlich auch so. Somit hätte Macky Sall kandieren dürfen.
Allerdings war es Sall selbst gewesen, der sich vor seiner ersten Wahl 2012 vehement gegen eine dritte Amtszeit des damaligen Präsidenten – Salls politischer Ziehvater Abdoulaye Wade, damals schon 97Jahre alt – einsetzte. Auch damals kam es zu gewalttätigen Straßendemonstrationen und Polizeigewalt. Die Demokratie nahm offenkundig, damals wie heute, Schaden, und Sall wurde als Hoffnungsträger angesehen.
Fragile Demokratie und Druck von allen Seiten
Die Ausgangslage heute ist laut Anja Osei mit der vor elf Jahren gut vergleichbar. Die Professorin forscht am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der FH Berlin im Arbeitsbereich Politik und Gesellschaft in Afrika. Sie sagt: "Man kann schon sagen, dass die Demokratie auch heute geschädigt wurde. Allerdings kann man genauso gut sagen, dass es sich um eine Wiederholung der Ereignisse um den Vorgänger Wade handelt".
Sall, der bis Anfang dieses Jahres auch Präsident der Afrikanischen Union war, erklärte nun, er stehe zu seinem Wort, nicht für eine dritte Amtszeit zu kandidieren – obwohl die Verfassungsreform von 2016 ihm das Recht dazu gebe. "Ich habe einen Ehrenkodex und einen Sinn für historische Verantwortung, und diese weisen mich an, meine Würde und mein Wort zu wahren", erklärte der Staatschef, der auch immer wieder für seine Klientelpolitik und Leuchtturmprojekte in der Kritik stand.
Tatsächlich erklärt sich Salls Einlenken nicht aus politischer Klugheit, Verantwortung oder Weitsicht, wie manche Beobachter schreiben, sondern vielmehr aus dem großen Druck von der Straße und von der internationalen Gemeinschaft. Bei letzterer genießt Sall hohes Ansehen. UN-Generalsekretär Antonio Guterres etwa sprach nach der Botschaft Salls von einem "sehr wichtigen Beispiel für die Welt".
Der mächtigste Mann Senegals musste sich dem beugen, was die Opposition um Salls Hauptrivalen Ousmane Sonko und andere seit Monaten säten: Widerstand gegen Sall und seine mögliche dritte Amtszeit. "Sall hatte also vermutlich vor, zu kandidieren, stellt aber nun fest, dass der Gegenwind stark ist. Es war somit auch ein Test dafür, wie populär er ist beziehungsweise wie viel Opposition zu erwarten ist", erklärt Osei. Immerhin sei die Tatsache, dass Sall dem Druck der Straße nachgibt und nicht kandidiert, ein Indikator dafür, dass er nicht machen kann, was er will. Vielmehr existierten durchaus noch gesellschaftliche "checks and balances", analysiert die Wissenschaftlerin.
Schlechte Bedingungen für Oppositionspolitik
Da auch die Grundfesten der senegalesischen Demokratie immer fragil gewesen sind, insbesondere das Parteiensystem, kann man laut Osei davon ausgehen, dass das "primäre Interesse in der Erhaltung der Macht liegt". Im Gegensatz zu anderen Ländern hat Senegal eine starke Zivilgesellschaft, die häufig demonstriert, und starke moralische und religiöse Autoritäten, die über das Land wachen.
Osei nennt hier exemplarisch die einflussreichen muslimischen Bruderschaften oder islamische religiöse Führer, die sogenannten Marabouts. Dass trotz dieser "Wächter" über den Senegal bei den "Anti-Sall-Demonstrationen" und Ausschreitungen der vergangenen Monate mehr als 40 Menschen gestorben sind, ist eine traurige Bilanz. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass es vor der Wahl im Februar wieder zu Unruhen kommt, meint Osei.
Bis jetzt setzte Sall sich fast immer durch mit seinen Vorhaben. So ließ er – wie sein Vorgänger Wade – politische Gegner juristisch ausschalten, angefangen mit Karim Wade, dem Sohn seines Amtsvorgängers, über den mächtigen Khalifa Sall, Ex-Bürgermeister Dakars, bis hin nun zu Salls Hauptopponenten der vergangenen Jahre, Ousmane Sonko.
Sonko wurde erst Anfang Juni wegen Verführung von Minderjährigen verurteilt, somit ist er ausgeschlossen von der Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr. Er müsste für zwei Jahre ins Gefängnis, der Haftbefehl wird allerdings aus Angst vor weiteren Ausschreitungen derzeit nicht vollstreckt. Sonko – in der Vergangenheit immer wieder verhaftet oder festgenommen, auch von den Behörden bei Wahlkampfauftritten schikaniert – steckt allerdings nicht auf. Er sagte, er wolle dennoch antreten, berichtet Coumba Ndoffène, TV-Journalist in Dakar, im Gespräch.
Forscherin Anja Osei bestätigt, dass die Bedingungen für Oppositionspolitik sich verschlechterten. Und, dass der Fall Sonko "auch ein politisches Exempel ist, einen Kandidaten loszuwerden, der bei der Wahl gute Chancen hätte." Und der Sall hätte gefährlich werden können, denn Sonko beschuldigt die amtierende Regierung des Machtmissbrauchs und der Bereicherung.
Ein Grundproblem bleibt auch ohne Sall
Auch wenn Sall 2024 Geschichte sein wird, bleibt ein Grundproblem in der senegalesischen Politik höchstwahrscheinlich bestehen: Von politischen Ämtern profitiert immer nur eine kleine Elite. "Wahlen sind auf eine Art eben auch nur eine neue Runde in der Verteilung von Posten", erklärt Osei weiter.
Der linkspopulistische und panafrikanisch denkende Ousmane Sonko präsentiert sich als Gegenentwurf, der Massen mobilisieren kann. "Das macht ihn für die alten Systemeliten relativ gefährlich", so Osei. Genau darin ist seine Popularität begründet. Zudem gibt er der perspektivlosen Jugend eine authentische Stimme.
Würde der 48-Jährige im Präsidentenamt eine qualitativ andere Politik machen? Daran gibt es zumindest Zweifel. "Die Demokratie im Senegal hat durchaus strukturelle Defizite, die tiefer gehen als Wahlen", erklärt Osei. Von zentraler Bedeutung sei es, welche Mechanismen geschaffen werden können, damit Politik nicht länger als Instrument der persönlichen, familiären und Clan-Bereicherung missbraucht wird.
Caroline Hauptmann, Leiterin der Konrad-Adenauer-Stiftung in Dakar, sagt über Sonkos Ambitionen: "Eine konkrete Agenda gibt es aus meiner Sicht nicht, es bleibt vage." Immerhin wolle er eine andere Agenda als seine Vorgänger, erklärt Hauptmann: "So will er mehr für die Jugend tun. Er will, dass es mehr Mitspracherecht gibt. Er will eine regionale Währung einführen. Er verweist sehr auf eine adäquate Nutzung der zu erwartenden Einnahmen im Energiesektor, zugunsten des Volkes."
Verwendete Quellen:
- taz.de: Macky Sall verzichtet auf Kandidatur
- taz.de: Kein drittes Mal für Macky Sall
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