Sebastian Kurz polarisiert, in Europa und zuhause in Österreich, wo er seit genau einem Jahr regiert. Die Kritiker hängen ihm das Wort des Jahres um: "Schweigekanzler". Dahinter steckt eine Kommunikationsstrategie, die seinen Erfolg erst möglich macht.

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Es ist nicht so, dass Sebastian Kurz nicht gern redet. Als Österreichs Bundeskanzler vor zwei Wochen in der Wiener Hofburg neben Vizekanzler Heinz-Christian Strache Bilanz ziehen wollte über das erste Regierungsjahr, ließ er den Journalisten vorher ausrichten, es gebe kein Zeitlimit, jede Frage werde beantwortet.

Ein bisschen wirkte es so, als wolle er seinen Kritikern schon vorab den Wind aus den Segeln nehmen.

Den "Schweigekanzler" nennen sie ihn, der wenig schmeichelhafte Beiname hat seinen Weg aus den Pressemitteilungen der Opposition in die Medien gefunden und haftet Kurz nun hartnäckig an. Bis zum "Wort des Jahres" hat es der Begriff gebracht. Auch wenn er in die Irre führt.

Sebastian Kurz schweigt nämlich gar nicht, er sagt nur nichts. Und schon gar nicht das, was die Opposition und kritische Medien von ihm hören wollen.

Wenn der Koalitionspartner von rechtsaußen mal wieder für einen Aufreger sorgt, speist der Bundeskanzler Reporter gern mit einem knappen wie nichtssagenden Statement ab.

Was Journalisten und Kritiker zur Weißglut treibt, scheint Kurz nicht zu schaden, im Gegenteil: Die ÖVP steht in Umfragen blendend da, er selbst genießt die besten Popularitätswerte aller Politiker im Land.

Und bei aller harschen Kritik, bei allem Spott, der im "Schweigekanzler" mitschwingt: Gerade die Kommunikationsstrategie ist sein Erfolgsrezept.

"Kurz hat das gut erkannt"

Über allem stehe in der Regierung die Harmonie, sagt die Politik-Professorin Kathrin Stainer-Hämmerle von der Universität Klagenfurt im Gespräch mit diesem Portal. "Und dieser Ansatz ist erfolgreich."

Kurz habe die Lehren aus der Vergangenheit gezogen: Die Großen Koalitionen unter den SPÖ-Kanzlern Werner Faymann und Christian Kern hatten sich stets medienwirksam gezofft und dabei viel Vertrauen verspielt.

"Die Leute wollen, dass gearbeitet wird, und keine Diskussionen in der Öffentlichkeit", sagt Stainer-Hämmerle. "Das ist nicht unbedingt ein Zeichen politischer Reife in der Bevölkerung, aber Kurz hat das gut erkannt."

Also hält Kurz lieber die Füße still und seine Statements knapp, "überall dort, wo sich ein Konflikt mit dem Koalitionspartner hineininterpretieren lassen könnte".

Auch dann, wenn die Öffentlichkeit klare Ansagen erwartet - wie bei den zahlreichen Fällen, in denen FPÖ-Politiker, meist aus der zweiten oder dritten Reihe, am äußersten rechten Rand streifen.

Im Februar tauchte in der Burschenschaft von Udo Landbauer, Spitzenkandidat der FPÖ Niederösterreich, ein Liederbuch mit antisemitischen Texten auf.

Kurz reagierte nach einem mittlerweile bekannten Muster: mit einer Sprachregelung, die vom ganzen Kabinett inklusive der FPÖ übernommen wurde, und einer generellen Verurteilung von Antisemitismus.

Auf grundsätzliche Diskussionen um die Ideologien in Burschenschaften lässt er sich nicht ein.

Wo möglich, belässt er es bei Allgemeinplätzen: "Immer wenn es um das Anstreichen am rechten Rand geht, zieht sich Kurz auf die Metaebene zurück", analysiert Stainer-Hämmerle. Er erzählt dann, was seine Regierung alles gegen den Antisemitismus unternehmen würde. "Die Einzelfälle kommentiert er nicht."

Alles unter Kontrolle

Den Beinamen "Schweigekanzler" hat Kurz auch dem Politologen Peter Filzmaier zu verdanken, dem Haus-und-Hof-Experten des ORF.

Im Gespräch mit diesem Portal will Filzmaier das nicht unbedingt nur als Kritik verstanden wissen: "Der Bundeskanzler ist gut beraten, nicht den Zwischenrufer in der Bundespolitik zu geben, weil er nicht einmal die Richtlinienkompetenz hat, wie etwa die deutsche Bundeskanzlerin."

Formell stimmt das, allerdings hat sich Kurz die Hoheit in der Regierung gesichert, indem er für die ÖVP nur handverlesene Quereinsteiger berief, denen eine Hausmacht in der Partei fehlt.

Die unerfahrenen Kabinettsmitglieder mussten aber erst auf Linie gebracht werden, auch deswegen umschwärmen über 50 PR-Leute die 13 Ministerinnen und Minister.

Kurz installierte erstmals einen Regierungssprecher, eine Position, die Deutschland seit 1949 kennt. "Die Medien verärgert das, sie kriegen keinen direkten Kontakt mehr zum Kabinett", sagt Kathrin Stainer-Hämmerle.

Wo früher die Politiker der Großen Koalition nur allzu gern Journalisten mit Sticheleien gegen den Regierungspartner fütterten, heißt das Stichwort nun "Message Control": ÖVP und FPÖ steuern ihre Kommunikation in enger Abstimmung - und teils bis auf die Silbe deckungsgleich.

Das beschränkt sich nicht nur auf die Kommunikation, sondern auch auf den Regierungsstil: Früher war es in Österreich üblich, die Sozialpartner ins Gesetzgebungsverfahren einzubeziehen, also Gewerkschaften und Arbeitnehmervertreter.

Nun beschließt das Kabinett die Gesetze mehr oder weniger im Alleingang und peitscht sie auch schon mal im Eilverfahren durchs Parlament.

"Und dann kommt der letzte Schritt: Die Kommunikation über die
eigenen Kanäle", sagt Stainer-Hämmerle.

Die FPÖ sei ohnehin nicht mehr auf traditionelle Medien angewiesen, auch die ÖVP habe viel Aufwand um Kurz' Social-Media-Accounts betrieben. Sowohl Strache als auch Kurz erreichen über Facebook fast 800.000 Menschen.

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Die klassischen Medien werden immer unwichtiger - und zur Zielscheibe besonders der FPÖ. Kurz sieht darüber hinweg.

Als sich Parteichef Strache im Februar mal wieder mit dem ORF anlegte, sagte Kurz nur: "Grundsätzlich würde ich mir wünschen, dass man wieder die Emotionen rausnimmt."

Zu wenig, findet Kathrin Stainer-Hämmerle: "Da erwarte ich mir von Kurz eine Ansage: Wie wichtig ist unabhängiger Journalismus für die Demokratie?" Auch im Bereich Sozialpolitik hätte sie sich mehr klärende Worte gewünscht.

"Die ÖVP ist eine christlich-soziale Partei. Wenn die Sozialministerin Beate Hartinger-Klein sagt, 150 Euro reichten zum Leben, muss Kurz Position beziehen: Wann ist bei den sozialen Kürzungen die Grenze nach unten erreicht?"

Aus realpolitischer Sicht kann sie jedoch verstehen, warum Kurz die FPÖ mit Samthandschuhen anfasst: "Er muss die FPÖ bei Laune halten. Die größte Gefahr wäre, wenn die Partei in den Umfragen abstürzt und sich zerlegt. Ihm darf der Partner nicht abhandenkommen, er hat keine Alternative."

Bislang läuft es ohnehin nach Wunsch: Eine Mehrheit von 58 Prozent der Befragten zeigt sich in einer Umfrage der GfK Austria zufrieden mit der Regierung. Den Politologen Peter Filzmaier überrascht das nicht.

"Seit 1983 registrieren wir bei allen Parteiwahlen im Bund Mehrheiten Mitte-rechts. Im Unterschied zu früher ist das rechte Lager nicht gespalten; wenn es so ist, kann man sich dieser Mehrheit sicher sein." Fragt sich nur, wie lange die Harmonie andauert.

Im Frühjahr stehen Europawahlen an. Während Kurz' ÖVP Europa traditionell positiv gegenübersteht, ist Brüssel eins der Feindbilder der FPÖ. Kathrin Stainer-Hämmerle erwartet einen Lackmustest für die Regierung: "Da lassen sich einige Unterschiede nicht mehr so einfach überspielen."

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