Ob die EU-Karriere von Ursula von der Leyen noch fünf Jahre weitergeht, liegt in den Händen des Europaparlaments. Heute ist der Tag der Entscheidung – wenn nicht noch ein Antrag von Linken durchgeht.
Schafft sie es? Oder scheitert sich auf den letzten Metern? Wenn
Zum letzten Mal hat die Deutsche dann die Möglichkeit, Abgeordnete von sich zu überzeugen. Die Gruppe der EU-Staats- und Regierungschefs hat sie bereits für eine zweite Amtszeit als Präsidentin der Europäischen Kommission nominiert, doch das Europäische Parlament hat das letzte Wort.
Wenige Stunden nach der Rede, um 13.00 Uhr, werden die mehr als 700 Abgeordneten aufgerufen sein, ihre Stimme abzugeben. Wenn nicht mehr als die Hälfte aller Stimmberechtigten mit Ja votiert, ist die EU-Karriere der früheren deutschen Ministerin vorerst zu Ende. Die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten müssten innerhalb eines Monats einen neuen Kandidaten vorschlagen.
Mehrheit nicht garantiert
Ungemütlich ist die Lage für von der Leyen insbesondere wegen der Mehrheitsverhältnisse im neuen Europaparlament. Ihr Mitte-Rechts-Bündnis EVP, zu dem auch CDU und CSU gehören, hat die Europawahl Anfang Juni zwar klar gewonnen und besetzt nach jüngsten Angaben 188 Sitze im neuen Parlament.
Für die notwendige Mehrheit braucht es allerdings fast doppelt so viele Stimmen. Diese sollen über eine informelle Koalition mit den europäischen Sozialdemokraten und Liberalen sowie über inhaltliche Zusagen an die Grünen gewonnen werden.
Zankapfel Verbrenner-Aus
Von der Leyen betont so immer wieder, dass sie trotz Gegenwind aus Wirtschaft und Landwirtschaft zu ihrem als "Green Deal" bezeichneten Programm für eine klimaneutrale EU bis 2050 steht. Bei Details muss sie allerdings vage bleiben. So fordern die deutschen Liberalen vor der Wahl von Ursula von der Leyen, sich für eine Rücknahme des bereits beschlossenen Verbots von neuen Verbrenner-Autos ab 2035 einzusetzen. Grüne könnte eine solche Zusage hingegen von einer Wahl von der Leyens abhalten.
Verkompliziert wird die Sache noch dadurch, dass in geheimer Abstimmung gewählt wird – und es keinen Fraktionszwang gibt. 2019 bekam von der Leyen bei ihrer Wahl gerade einmal neun Stimmen mehr als notwendig.
Linke fordert Wahlverschiebung
Zu Unzeiten kam für von der Leyen deswegen an diesem Mittwoch ein Urteil des EU-Gerichts zum Umgang ihrer Behörde mit den milliardenschweren Corona-Impfstoffverträgen. Dieses kommt zu dem Ergebnis, dass die Kommission mit der Geheimhaltung von Informationen gegen EU-Recht verstoßen hat. Problematisch könnte dies für von der Leyen sein, weil ihr aus dem Parlament seit Jahren Intransparenz in ihrer Amtsführung vorgeworfen wird.
Abgeordnete aus dem linken Lager forderten am Abend, wegen des Urteils die Abstimmung über von der Leyen so lange zu verschieben, bis vom Urteil betroffene Dokumente freigegeben sind. Dass der Vorstoß im gesamten Parlament die erforderliche Unterstützung bekommt, gilt jedoch als äußerst unwahrscheinlich.
Brisantes Urteil am Vortag der Wahl
Die Kommission hatte in Reaktion auf das Urteil betont, dass sie in dem Verfahren in weiten Teilen Recht bekommen habe. Es hieß, die Kritik des Gerichts beziehe sich insbesondere auf Geheimhaltungsinteressen der Pharmaindustrie, die die Kommission nicht ignorieren könne, ohne Schäden als Verhandlungspartner befürchten zu müssen.
Wenn es wie geplant um 13:00 Uhr zur Abstimmung kommt, soll es gegen 15:00 Uhr nach der Stimmenauszählung Klarheit über die Zukunft von Ursula von der Leyen geben. Aus nationalen Delegationen war zuletzt zu hören, dass informelle Umfragen unter Abgeordneten darauf hindeuten, dass sie aus dem Lager EVP, Liberale, Sozialdemokraten und Grüne zwischen 365 und 420 Stimmen bekommen sollte – diese wurden allerdings vor dem Urteil des EU-Gerichts durchgeführt.
Orban gibt Vorlage
Gehofft wird im EVP-Lager, dass von der Leyen zumindest mit ihrer Reaktion auf den diplomatischen Alleingang des ungarischen Regierungschefs Viktor Orban in der Ukraine-Politik bei einigen kritischen Abgeordneten punkten konnte. Sie hatte nach der Moskau-Reise Orbans angekündigt, dass Spitzenvertreter ihrer Institution vorerst nicht mehr zu von der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft organisierten Ministertreffen reisen werden.
Zuvor hatte von der Leyen wegen ihres Umgangs mit Orban stark in Kritik gestanden. So wurde die EU-Kommission jüngst sogar vom Parlament verklagt, weil sie aus Sicht einer Mehrheit der Abgeordneten zu unrecht EU-Fördergelder für Ungarn freigegeben hat.
Und schließlich müssen sich die Abgeordneten auch die Frage stellen, ob sie es riskieren wollen, die EU in der aktuellen weltpolitischen Lage in politisches Chaos zu stürzen. Selbst überzeugte Gegner von der Leyen können derzeit niemanden anders nennen, der realistische Chancen hätte, im Parlament mehr Stimmen zu bekommen, als von der Leyen. Zudem gilt, dass sie in diesem Jahr immerhin als Spitzenkandidatin für das Amt angetreten war und damit eine Forderung erfüllt hatte, die das Parlament selbst gestellt hat. (dpa/lag)
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