Dass ein Staat von seinen Bürgern Steuern einzieht, gilt in der Regel als Selbstverständlichkeit. Nicht so in Saudi-Arabien: Dort ist die Einführung von Steuern geradezu revolutionär. Die Vision "2030" ist eine ökonomische Notwendigkeit in dem Ölstaat. Die Hoffnung, dass diese Reform auch einen gesellschaftlichen Wandel herbeiführt, dürfte sich aber wohl zerschlagen. Dafür gibt es konkrete Gründe.
Die 32 Millionen Saudis sind das Leben in einem Wohlfahrtsstaat gewohnt: Staatliche Leistungen wie Bildung und medizinische Versorgung sind ebenso kostenlos wie Wasser und Strom. Möglich ist das durch den Ölreichtum, genauer: es war möglich.
2012 hatte der Ölpreis das historische Hoch von mehr als 100 US-Dollar pro Barrel erreicht. Doch dann ging es in atemberaubendem Tempo bergab: 2016 erzielte ein Barrel nur noch gut 40 Dollar, seither sinkt das Wirtschaftswachstum Saudi-Arabiens, die Staatsverschuldung explodierte.
Zwar geht der Ölpreis derzeit wieder nach oben – aber noch 2016 überstiegen die Ausgaben der Saudis die Einnahmen um 100 Milliarden Dollar. Darauf reagiert Vize-Kronprinz
Erstmals müssen die Bürger Mehrwertsteuer zahlen
"Vision 2030" nennt sich das Maßnahmenpaket, mit dem er bis zum Jahr 2030 die Abhängigkeit vom Öl beenden und die saudische Wirtschaft zukunftsfähig machen will.
Steuern gehören zu den wirtschaftlichen Neuerungen, die der Reformer für unumgänglich hält. Für die Bürger kommt es aber erst einmal nicht allzu dick: Eine gestaffelte Mehrwertsteuer verteuert vor allem Genussmittel wie Limonade, Schokolade und Tabak.
Dass zunächst nur Luxusprodukte besteuert werden, sei ein Schachzug der Regierung, der die Kritik von vorneherein dämpfen solle, meint Sebastian Sons, Experte für Saudi-Arabien bei der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik:
"Das sind Produkte, die der streng religiösen saudischen Elite ohnehin ein Dorn im Auge sind. Man tarnt die Steuer als erzieherische Maßnahme, gegen die kein guter Moslem etwas haben kann."
Ein Reformstau blockiert das Land
Hinter der Maßnahme stecken laut Sons gravierende Probleme, die nicht nur wirtschaftlicher Art sind: "Seit Jahrzehnten lähmt ein gewaltiger Reformstau das Land. Das Königshaus hat es versäumt, eine produktive Wirtschaft mit diversifizierter Produktion zu schaffen."
Deshalb will Mohammed bin Salman mithilfe einer Bildungsoffensive sowie Investitionen in Medizin, Tourismus und Industrie einen gewaltigen Sprung schaffen: Die Zahl der Arbeitsplätze soll sich bis 2030 verdoppeln, der Anteil der Ölproduktion am Staatseinkommen von 70 auf zehn Prozent sinken.
Ginge der Plan auf, wären manche Probleme des Landes gelöst: Die hohe Jugendarbeitslosigkeit von 30 Prozent etwa sorgt für anhaltende Unzufriedenheit. Gleichzeit strebt die äußerst gut ausgebildete Schicht der unter 30-Jährigen – sie macht 70 Prozent der Bevölkerung aus – nach mehr Einfluss.
"Viele haben hohe Ambitionen", sagt der Wissenschaftler Sons, "aber sie sehen kaum Chancen für sich." Mit wirtschaftlichem Aufschwung, so die Hoffnung der Reformer, würden auch neue Perspektiven entstehen.
Weil die jüngere Generation sich nicht nur nach Jobs und Einfluss sehnt, sondern auch nach Freiheit und Unterhaltung, sorgen weitere Themen für Gesprächsstoff:
"Vision 2030" hat auch eine Diskussion darüber ausgelöst, ob Theater und Kinos erlaubt werden sollen – für viele der herrschenden konservativen Wahhabiten eine Schreckensvorstellung.
Dem Wahhabismus, in Saudi-Arabien Staatsreligion, galten lange Zeit sogar Musik und Fernsehen als verdächtig. Öffentliche Hinrichtungen und Auspeitschungen gehören ebenso zur Rechtsordnung wie eine Spezialpolizei, die die Einhaltung der religiösen Normen überwacht.
Die großen Umwälzungen könnten ausbleiben
Wissenschaftler Sons ist skeptisch, ob die angepeilten wirtschaftlichen Veränderungen auch einen gesellschaftlichen und politischen Wandel nach sich ziehen.
Beispiel Frauenarbeit: Zwar werden saudische Frauen mittlerweile auch als Arbeitskräfte geschätzt, es sitzt mit Lubna Olaya eine Frau sogar im Vorstand der großen Alawwal Bank. Doch mit dem Auto dürfen Frauen auch weiterhin nicht selbst zur Arbeit fahren. Es ist ihnen aus religiösen Gründen untersagt.
"Mag sein", so Sons, "dass dieses Verbot irgendwann kippt, weil es wirtschaftsfeindlich ist." Solange sich aber an der rechtlichen Stellung der saudischen Frauen nichts ändere, blieben auch solche Zugeständnisse "reine Scheinreformen".
Dass es zu Liberalisierungen kommen könnte, hält Sons ohnehin für sehr unwahrscheinlich: Das Konzept "Vision 2030" sei rein wirtschaftlich orientiert und gleichzeitig bemüht, notwendige gesellschaftliche Veränderungen abzuwenden.
Während sich Saudi-Arabien also gerade wirtschaftlich neu orientiert, sind die kleineren Golfstaaten den Saudis in ihrer Entwicklung bereits voraus:
Bestrebungen zur wirtschaftlichen Öffnung, so Sons, hätten "in den Emiraten und Katar schon seit der Jahrtausendwende stattgefunden". Dubai beispielsweise hat sich zum Finanz- und Logistikzentrum entwickelt, sich als zukunftsorientierter Staat in Szene gesetzt, Investoren und Kapital ins Land geholt.
Doch Sons mag diesen Wandel nicht als echten Erfolg durchgehen lassen: Auch in den Emiraten diene der wirtschaftliche Wandel nur dazu, "gesellschaftliche Entwicklungen zu blockieren".
Repressionen nehmen zu
Während Kritiker fordern, die Saudis müssten endlich den Weg zu einer konstitutionellen Monarchie einschlagen und die absolute Macht des Königshauses einschränken, registriert Sons derzeit eine gegenläufige Entwicklung: "Unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung nehmen Repression und Willkür zu."
Zum Staat, in dem alles kostenlos ist, führe kein Weg zurück. Aber sogar der Erfolg wirtschaftlicher Reformen bleibe fraglich, solange sie nicht mit gesellschaftlichem Wandel einhergehen, meint der Experte. Doch dafür gibt es momentan noch keine Anzeichen.
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