Es ist ein schon lange erwarteter Schritt: Erstmals seit Jahren lassen die Ukraine und Russland ihre Feindschaft für einen Moment ruhen und tauschen Dutzende Gefangene aus, darunter wohl auch der bekannteste politische Häftling aus der Ukraine. Beide Seiten hoffen dadurch auf Entspannung.
Nach jahrelanger Konfrontation im Ukraine-Konflikt haben Moskau und Kiew einen beispiellosen Gefangenenaustausch vollzogen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte am Samstag auf dem Kiewer Flughafen Borispol, dass er und Kremlchef Wladimir Putin das Vorhaben gemeinsam umgesetzt hätten.
Es spielten sich ergreifende Szenen mit innigen Umarmungen und Freudentränen ab, als die 24 ukrainischen Seeleute und der in Russland seit mehr als fünf Jahren inhaftierte Regisseur Oleg Senzow in Kiew landeten.
"Ich denke, das ist die erste Etappe. Und wir müssen alle Schritte unternehmen, um diesen schrecklichen Krieg zu beenden", sagte
Er wolle sich mit Kremlchef Wladimir Putin auch um die Freilassung der restlichen Gefangenen bemühen, sagte Selenskyj. Er umarmte die freigelassenen Gefangenen und begrüßte sie mit Handschlag. Selenskyj will möglichst schnell einen Gipfel im so bezeichneten Normandie-Format - mit Russland, Deutschland und Frankreich - organisieren, um den Friedensprozess wiederzubeleben.
Begrüßende Worte aus dem Ausland
Mehrere russische Politiker sprachen von einem "historischen Ereignis" im Verhältnis beider Länder. Ein "hoffnungsvolles Zeichen" sah auch Bundeskanzlerin
EU-Parlamentspräsident David Sassoli bezeichnete Senzow als "mutigen und entschlossenen Mann, der Unrecht mit Würde ertragen und sich für Demokratie, die Herrschaft des Rechts und die Menschenrechte eingesetzt hat". Die EU-Außenbeauftragte Frederica Mogherini betonte, die EU erwarte nun, dass beide Seiten auf dem Erreichten aufbauten.
Auch US-Präsident
Selenskyj löst Wahlversprechen ein
Fast zeitgleich waren am Vormittag in Moskau und Kiew Flugzeuge mit den Gefangenen gestartet. Ausgetauscht werden sollten auf jeder Seite 35 Gefangene. In Kiew sagte die Menschrechtsbeauftragte des Parlaments Ljudmila Denissowa, dass weiter noch 110 Ukrainer noch in russischer Haft seien. Unklar war, wie viele Gefangene noch auf ukrainischer Seite sind.
Mit dem Austausch hat der ukrainische Präsident Selenskyj eines seiner zentralen Wahlversprechen eingelöst. Unterstützung hatte er nicht nur von Merkel, sondern auch vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Deutschland und Frankreich hätten sich "sehr für Schritte der Vertrauensbildung" zwischen Russland und der Ukraine eingesetzt, sagte Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD). Der Europarat in Straßburg nannte den Austausch einen ermutigenden Schritt zur Normalisierung der Lage zwischen den beiden Ländern.
Die Staatenorganisation, in der die Ukraine und Russland Mitglied sind, sei bereit, den Versöhnungsprozess auf Basis der Europäischen Menschenrechtskonvention zu unterstützen, erklärte Europarat-Generalsekretär Thorbjørn Jagland in einer Mitteilung. Selenskyj hatte am Freitagabend zunächst mehrere Inhaftierte begnadigt und damit den Austausch mit Russland vorbereitet.
Als eine humanitäre Aktion hatte Kremlchef Putin das Vorhaben angekündigt. "Das wäre ein guter Schritt vorwärts in Richtung einer Normalisierung", sagte Putin am Donnerstag auf dem fernöstlichen Wirtschaftsforum.
Historisches Ereignis im Verhältnis beider Länder
Das russische Außenministerium sprach von einem "wichtigen Schritt". Diese Stimmung könne genutzt werden für die Lösung weiterer Probleme, teilte eine Ministeriumssprecherin mit.
Der prominente russische Außenpolitiker Konstantin Kossatschow sagte, dass der politisch bedeutende Gefangenenaustausch den Minsker Friedensprozess beleben könne. Der in der weißrussischen Hauptstadt Minsk 2015 vereinbarte Friedensplan liegt seit längerem auf Eis.
Kossatschows Kollegen im Föderationsrat - dem Oberhaus des Parlaments - sprachen von einem historischen Ereignis im Verhältnis beider Länder. Die neue ukrainische Führung zeige, dass sie in der Lage sei, Kompromisse einzugehen, hieß es. Putin und Selenskyj hatten zuletzt zweimal telefoniert.
Die nun freigelassenen Seeleute waren Ende November mit ihrem Schiff auf dem Weg vom Schwarzen ins Asowsche Meer vor der Halbinsel Krim vom russischen Grenzschutz gewaltsam gestoppt worden. Moskau wollte die Matrosen wegen Grenzverletzung bestrafen. Ihnen drohten jeweils lange Haftstrafen.
Überraschende Freilassung eines ehemaligen Kämpfers
Hintergrund ist der Konflikt zwischen beiden Ex-Sowjetrepubliken. Russland hatte vor gut fünf Jahren die ukrainische Halbinsel Krim annektiert. Seit 2014 stehen zudem Teile der ostukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk an der Grenze zu Russland unter Kontrolle von Aufständischen, die von Moskau unterstützt werden. Bei Kämpfen dort wurden nach UN-Schätzungen rund 13 000 Menschen getötet.
Der prominenteste Gefangene war der ukrainische Filmemacher Senzow. Der 43-Jährige wurde 2015 trotz internationaler Proteste wegen Terrorismusvorwürfen zu 20 Jahren Lagerhaft verurteilt. Erst im Juli hatte Selenskyj einen Austausch des Regisseurs gegen den von der Ukraine unter Auflagen freigelassenen Journalisten Kirill Wyschinski angekündigt. Wyschinski, der für die staatliche Nachrichtenagentur Ria Nowosti in der Ukraine arbeitete, landete am Samstag ebenfalls in Moskau.
In Verbindung mit dem Gefangenenaustausch stand auch die überraschende Freilassung eines ehemaligen Kämpfers aus dem Separatistengebiet Donbass. Ein Gericht in Kiew hatte den den 58-Jährigen schon am Donnerstag freigelassen. Der Ex-Kommandeur einer Luftabwehreinheit der prorussischen Rebellen soll ein Schlüsselzeuge sein für den Abschuss des Passagierflugzeugs MH17 im Juli 2014 im Gebiet Donbass. Damals kamen alle 298 Insassen ums Leben.
Ein internationales Ermittlerteam unter Führung der niederländischen Staatsanwaltschaft verdächtigt Russland, ein Buk-Flugabwehrsystem ins Rebellengebiet gebracht zu haben. Damit soll die Maschine abgeschossen worden sein. Zuvor hatten 40 EU-Parlamentsabgeordnete an Präsident Selenskyj appelliert, den Verdächtigen nicht an Russland zu übergeben. Die Ermittler in den Niederlanden befürchteten nun, dass der Mann als Zeuge nicht mehr zu Verfügung stehen wird. (kad/dpa)
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