Geleakte US-Geheimdokumente haben die Spekulationen neu angefacht: Wo und wann wird die ukrainische Gegenoffensive stattfinden? Militärexperte Gustav Gressel erklärt, worauf es aus ukrainischer Sicht ankommen dürfte und zu welchem Zeitpunkt die Ukrainer wohl zuschlagen werden.

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Die Veröffentlichung streng geheimer US-Dokumente wirft noch immer Fragen auf: Wo befand sich das Leck? Wie gefährdet ist die innere Sicherheit in den USA? Und: Welchen Einfluss hat das Leck auf die geplante Offensive der Ukrainer im Krieg gegen Russland?

Kiew zeigt sich nach außen gelassen und streitet ab, dass Informationen über Militäroperationen an die Öffentlichkeit gelangt seien. Laut Olexij Danilow, dem Sekretär des nationalen Sicherheitsrats, sind keine Daten über die Größe von Einheiten und die Stoßrichtung bei einer geplanten Offensive bekannt geworden. "Diese Informationen sind absolut geheim", betonte er in einem "ARD"-Interview. Der Beginn der Gegenoffensive entscheide sich erst im letzten Moment.

Wann schlagen die Ukrainer zu?

Laut Präsidentenberater Mychajlo Podoljak haben die Veröffentlichung keinen Einfluss auf eine ukrainische Offensive, weil an den Plänen noch gearbeitet werde. Militärexperte Gustav Gressel kann trotzdem bereits einige Analysen anstellen.

Wo, wann und mit welchen Zielen werden die Ukrainer zuschlagen? Gressel ist sich zumindest in einem Punkt sicher: "Man muss noch ein bisschen warten." Zum einen sei das Wetter in der Ukraine aktuell sehr wechselhaft, zum anderen hänge der Zeitpunkt von der Verfügbarkeit ukrainischer Kräfte ab.

Westliche Waffensysteme werden aktuell integriert

"Die westlichen Waffensysteme werden aktuell integriert", beobachtet er. Dabei gehe es nicht nur um Kampfpanzer, sondern auch beispielsweise um Schützen- und Brückenlegepanzer sowie um Spezialminenräumgerät und neue Artilleriesysteme.

Im März sei die Ausbildung an den Einzelsystemen abgeschlossen worden, jetzt müssten noch die Verbände geschult werden, sagt der Experte. Außerdem seien Freiwillige für Sturmbrigaden rekrutiert worden, die in der Ukraine aufgestellt würden. "Sie zusammenzuführen, braucht Zeit", erklärt Gressel.

Aus ukrainischer Sicht müsse sich auch die russische Offensive noch abschwächen. "Die Russen drücken mit allen Mitteln um Bachmut", erinnert er. Andere, nicht erfolgversprechende Angriffsrichtungen, würde Moskau zunehmend stilllegen.

Man betreibe an anderen Orten zwar Aufklärung und fahre kleinere Angriffe, aber unternehme keine systematischen Angriffsversuche mehr. "Alle verfügbaren Kräfte schmeißen die Russen in die Angriffsrichtungen, wo sie sich noch Erfolge erwarten. Das sind vor allem Bachmut und Avdivka", sagt der Militärexperte.

Das Abschmelzen der russischen Reserven sei aus ukrainischer Sicht für die eigene Offensive entscheidend. Denn: "Diese Reserven würde die russische Armee einsetzen, um einen ukrainischen Durchbruch aufzufangen und die Erfolge zu minimieren. Je weniger Reserven es gibt, desto besser und freier können die Ukrainer operieren", zeigt Gressel auf.

Munitionsbevorratung braucht Zeit

Gleichzeitig sei Gerät in der Ukraine immer noch Mangelware und auch die Munitionsbevorratung brauche noch Zeit. "Die Produktion von Munition wurde auch in andere Staaten verlagert und neu aufgenommen. Im Sommer wird sich die Munitionslage für die ukrainische Armee bessern", erklärt Gressel. Für eine erfolgreiche Offensive sei das enorm wichtig.

Gerüchten zufolge versuche man eine Gegenoffensive im Süden. Dafür gäbe es aus Sicht des Experten auch mehrere plausible Gründe: "Eine Offensive im Süden würde die russische Front zerschneiden. Saporischja ist für die ukrainische Wirtschaft zudem enorm wichtig."

Beide Ufer des Dnepr zu kontrollieren, sei außerdem für die ukrainische Energieversorgung und den Wasserhaushalt von enormer Bedeutung.

"Dort kämpft die Ukraine um die langfristige wirtschaftliche Überlebensfähigkeit", sagt Gressel. Wenn man die Küste des Asowschen Meers erreiche und sich dort konsolidiere, könne man außerdem die Krim-Brücke unter Beschuss nehmen. "Das würde den gesamten Nachschub der Russen im Süden enorm erschweren." Die Ukraine wäre dann mindestens in einer deutlich stärkeren Verhandlungsposition, als es aktuell der Fall sei.

Doch solche Analysen sind auch an Moskau nicht vorübergegangen. "Im Süden werden bereits intensiv in der russischen Tiefe Stellungen gegraben, zweite und dritte Linien aufgebaut und Minenfelder gelegt, um genau eine solche Offensive abzubremsen und zu verlangsamen", beobachtet Gressel. Der Weg für die ukrainischen Truppen in den Süden sei zudem weit. Es gebe zwei Flanken und in beide Richtungen offenen Raum, den man durch Kräfte decken müsse. "Der Kräftebedarf auf der ukrainischen Seite ist enorm."

Wo die politische Priorität liegt

Auf dem Süden liege zwar die politische Priorität, aber es gebe auch Hindernisse. "Das ist keine gegessene Sache", sagt Gressel. Andere diskutierte Angriffsrichtungen seien eine Nordoffensive mit dem Ziel Oblast Luhansk oder ein Angriff um Donzek herum. "Die Landschaft dort ist hügeliger, es gibt viele Ortschaften. Das heißt auch: Der Verteidiger kann sich gut festkrallen", erklärt er.

Wenn man in das Kräfteschwergewicht des Gegners hinein angreifen will, würde man es dort machen, analysiert Gressel. Dieses Szenario hält er allerdings für unwahrscheinlicher.

"Die Ukrainer werden noch bis in den Mai abwarten, wie sich das russische Kräftedispositiv verändert", sagt Gressel. Um ihre Offensive im Donbass zu nähren, müsse Moskau seine Kräfte immer mehr ausdünnen. "In dem Moment, wo die Ukrainer sehen, wo die russischen Kräfte am schwächsten sind und sie selbst die größten Erfolgsaussichten haben, das meiste Gelände zurückzugewinnen für den geringsten Kräfteeinsatz, werden sie dort reingehen."

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Langer Atem nötig

Insgesamt hänge die ukrainische Offensive aber sehr stark davon ab, was die Russen in den nächsten Wochen und Monaten tun werden. "Es ist ein langer Krieg", erinnert Gressel. Die Energie aufseiten Russlands nähre sich aus dem revanchistischen Gefühl, dass der Untergang der Sowjetunion zurückgedreht werden müsse.

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"Dieses Gefühl wird sich nicht schnell erschöpfen. Selbst wenn das russische Militärpotenzial langsam erlahmt und Putin keine weitere Mobilmachung angeht, würden wir höchstens einen brüchigen Waffenstillstand sehen", mutmaßt Gressel.

Die Ukrainer wüssten genau, dass sie militärisch einen langen Atem brauchen. "Den haben sie auch, aber der Westen nicht", warnt Gressel. Einfluss hätten beispielsweise Wahlen, die immer wieder stattfinden würden, Figuren wie Alice Schwarzer oder die China-Diskussion.

Über den Experten: Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg. Schwerpunktmäßig befasst sich Gressel mit Osteuropa, Russland und der Außenpolitik bei Großmächten.

Verwendete Quellen:

  • tagesschau.de: Ukraine sieht keinen Einfluss auf Militärstrategie
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