Seit mehr als einem Jahr versuchen sie, ihre Männer wieder heimzuholen. Sie fordern eine bessere Regelung zur Rotation. Mehr Ukrainer sollen eingezogen werden, damit jene, die seit Beginn des Krieges gegen Russland kämpfen, zur Ruhe kommen. Dafür protestieren sie – und fühlen sich von Präsident Selenskyj betrogen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Joana Rettig sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfließen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

"Soldaten sind nicht aus Eisen", rufen die Frauen und Kinder. Sie haben sich ukrainische Flaggen umgehängt, stehen auf halb geschmolzenem Schnee am Platz der Unabhängigkeit in der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Zwischendurch singen sie die Nationalhymne. Die Stadt ist nass und grau an diesem Freitag.

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Doch die Anwesenden halten an ihrem Protest fest, heben Schilder in die Höhe, auf denen etwa die Anzahl der Tage steht, die ihr männlicher Familienangehöriger bereits an der Front gegen russische Soldaten kämpft. Seit einigen Monaten formiert sich in der Ukraine, vor allem in der Region Kiew, eine Widerstandsbewegung. Auch am 2. Dezember waren sie schon auf der Straße. Sie fordern eine Demobilisierung – in Verbindung mit einer neuen Mobilmachung. Eine strengere Rotation. Damit sich Soldaten, die bereits seit Beginn der Invasion kämpfen, ausruhen können.

Doch viele dieser Widerstandskämpferinnen sind an diesem Tag nicht zu sehen. Wenn überhaupt, dann sind es vielleicht knapp einhundert.

Wenig Unterstützung auf der Straße

Unter ihnen ist Tetyana Fominikh. Die 42 Jahre alte Mutter macht sich Sorgen um ihren Ex-Mann und Vater ihres Sohnes. Dieser habe sich im März 2022 freiwillig zum Militärdienst gemeldet und sei noch immer an der Front. Sie sagt: "Wir fordern nicht das Ende des Krieges! Unsere Existenz als Nation steht auf dem Spiel." Was sie forderten, sei eine Lösung für das Problem. "Die Rotation wird früher oder später durchgeführt werden müssen. So wie es jetzt läuft, ist es eine Verhöhnung der Soldaten und ihrer Familien und demotivierend für die Gesellschaft", schreibt sie auf Anfrage unserer Redaktion. Niemand wolle dienen, ohne die Dienstzeiten zu kennen.

Dass bisher nur so wenig Unterstützung auf der Straße herrsche, versteht Fominikh. Auch die Facebookseite hat bisher gerade einmal 693 Follower. Der Hauptgrund dafür, sagt sie, sei die Angst der Familien, dass ihre Angehörigen eingezogen würden. Außerdem seien die Menschen in der Ukraine nicht daran gewöhnt, für ihre Rechte einzutreten. "Die meisten Menschen denken, dass nichts von uns abhängt. Das ist das Problem mit unserer Gesellschaft." Ein Überbleibsel aus den Zeiten in der Sowjetunion. Damals prägten Fremdbestimmung und Autokratie das Leben der Menschen. Fominikh ist sich allerdings sicher, dass sich die Dinge bald ändern würden.

Die Frauen haben sich über Facebook organisiert. Weder eine politische Partei noch eine andere Interessensvertretung stehen hinter der Planung. Und auch, wenn sie die derzeitigen Regelungen kritisieren, seien sie ausdrücklich nicht gegen die zuständigen Behörden.

Forderung: Rotation nach 18 Monaten Fronteinsatz

Sie wollen für die Rechte der Soldaten eintreten. Nach 18 Monaten sollen ihre Ehemänner, Söhne und Väter wieder heimkommen. Für diese Forderung haben sie im August bereits zum dritten Mal eine Petition gestartet, die mit mehr als 25.000 Unterschriften erfolgreich zum Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, getragen wurde.

Am Tag vor ihrem erneuten Protest erhielten die Frauen eine Antwort von ihm. Doch befriedigt sind sie nicht. Im Gegenteil. Sie fühlen sich betrogen. Sehen sogar Wahlkampf hinter Selenskyjs angeblichem Zögern.

In seiner Antwort auf die Petition bezog sich Selenskyj auf das aktuell geltende Kriegsrecht. Er schrieb: "Nach der ukrainischen Verfassung ist die Verteidigung der Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine Aufgabe des gesamten ukrainischen Volkes." Die Bürger leisteten ihren Militärdienst in Übereinstimmung mit dem Gesetz – und zwar nach den Artikeln 17 und 65 der ukrainischen Verfassung. Beide dieser Artikel übertragen den ukrainischen Bürgern die Pflicht, die Integrität der Ukraine zu schützen, sowie "das Vaterland zu verteidigen".

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Vorwurf: Selenskyj betreibe Wahlkampf zulasten der Soldaten

Allerdings sieht Selenskyj auch ein, dass der Staat eine Pflicht gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern habe. Er sei verpflichtet, "den Bürgern, die ihrer verfassungsmäßigen Pflicht zur Verteidigung des Vaterlandes nachkommen, angemessenen rechtlichen und sozialen Schutz zu gewähren". Dies sei mit dem jährlichen Grundurlaub sowie dem Urlaub aus familiären und anderen triftigen Gründen unter Beibehaltung ihrer finanziellen Unterstützung gewährleistet.

Zudem gebe es bereits eine Rotation der militärischen Einheiten, meinte der Präsident. Für die Frauen, die Widerstand leisten, ist das nicht genug. Eine Facebook-Nutzerin schreibt etwa: "Die Mobilisierung ist gescheitert. Praktisch gescheitert, denn es gibt keine Rotation, es gibt nicht genug Leute." Für einen Teil des ukrainischen Volkes herrsche Krieg, für den anderen sei dieser allerdings weit weg. Außerdem wirft sie Selenksyj vor, aus Wahlkampfgründen untätig zu bleiben. Wörtlich schreibt sie: "Offenbar stehen Wahlen an. Rühren sie die Menschen nicht an, um die Wählerschaft nicht zu verlieren?"

Ähnlich sieht es auch Tetyana Fominikh, die die Proteste in Kiew mitinitiiert hat und die Facebookseite dazu verwaltet. "Vielleicht rettet der Präsident diese Leute und will keine Stimmen verlieren" – auch wenn es wohl im März 2024 nicht zu Wahlen kommen werde.

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Selenskyj: Entlassung nur aus triftigem Grund

In ihrer Antwort auf die Anfrage unserer Redaktion reagiert sie wütend. Wütend auf den Präsidenten, wütend auf nicht eingehaltene Versprechen. "Natürlich waren alle über die Antwort des Präsidenten verärgert", schreibt die 42-Jährige. "Eine ähnliche Antwort haben wir bereits am 1. Dezember 2022 erhalten."

Sie persönlich ärgere sich darüber, dass offenbar über das Jahr hinweg kein Demobilisierungsmechanismus ausgearbeitet wurde. "Schon Ende 2022 war klar, dass sich dieser Krieg über viele Jahre hinziehen würde. Und schon damals musste man sich Gedanken über die nächste Mobilisierungswelle und die Ablösung der ersten Freiwilligen machen", schreibt Fominikh.
Tatsächlich hatte Selenskyj das Gesuch der Initiatorinnen bereits 2022 abgelehnt. Am 1. Dezember 2022 schrieb er unter anderem, Soldaten, die während der Mobilmachung einberufen würden, könnten nur aus triftigen Gründen, etwa Alter, Gesundheit, einem strafrechtlichen Schuldspruch oder familiären Angelegenheiten entlassen werden. "Im Rahmen des Kriegsrechts ist die Entlassung von mobilisierten Soldaten aus dem Militärdienst aus anderen Gründen nicht vorgesehen."

An der jetzigen Reaktion Selenskyjs kritisiert Fominikh zudem, dass er sich einen falschen Fokus gesetzt habe. Denn er habe sich größtenteils auf Boni und die soziale Unterstützung der Soldaten bezogen und nicht darauf, dass die Kämpfenden nach einer gewissen Zeit wieder nach Hause dürften. "Das ist nicht der Grund, warum wir auf die Straße gegangen sind. Es geht uns um das Recht auf Demobilisierung des Militärs, nicht um Prämien."

Selenskyj hingegen meint, die Beantwortung der in der Petition gestellten Fragen obliege den Ministerinnen und Ministern des Landes. Er habe daher Ministerpräsident Denys Shmyhal beauftragt, die Vorwürfe und Forderungen zu überprüfen.

Verwendete Quellen:

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