Seit Beginn des Krieges sind mehr als eine Million ukrainische Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Wie haben sie sich hier eingerichtet? Was bedrückt sie? Anna Kalaicheva und Oleksandr Kalaichev berichten vom Alltag mit ihrem kleinen Sohn in Leipzig.

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Als sie am 24. Februar 2022 in ihrer Wohnung in einem Vorort von Kiew die ersten Bomben einschlagen hören, ist für Anna Kalaicheva (36) und Oleksandr Kalaichev (35) schnell klar, dass sie das Land verlassen müssen. Anna leidet an einer Muskeldystrophie und kann sich ohne Hilfe kaum fortbewegen. Bei Luftalarm aus dem 8. Stock schnell in den Keller zu kommen, ist für sie unmöglich.

Das Ehepaar schnappt sich Söhnchen Senya und fährt am zweiten Kriegstag mit dem Auto Richtung Moldawien. Familie, Freunde, ihre schicke Wohnung, ihre Firma – alles müssen sie hinter sich lassen. Ihr altes Leben packen sie in drei Koffer. Als sie zu Fuß die Grenze passieren, fällt der ganze Druck von ihnen ab. "Ich habe viel geweint", sagt Anna.

"Wir sind sehr dankbar"

Mehr als ein Jahr nach Kriegsausbruch sitzen Anna und Alex vor einem Café in der belebten Karl-Heine-Straße im Westen von Leipzig. Sie wollen erzählen, wie sie sich ihr Leben in Deutschland eingerichtet haben. Zu Beginn kommen sie ein paar Tage bei einer Freundin Annas unter, danach für drei Monate auf dem Generationenhof in Lindennaundorf vor den Toren von Leipzig. Ein ländliches Wohnprojekt für Kinder und Jugendliche aus schwierigen Familienverhältnissen. "Die Menschen in Leipzig sind offen und unkompliziert. Wir haben so viel Unterstützung bekommen, alle wollen helfen. Wir sind sehr dankbar", sagt Anna.

Später beziehen sie eine von der Einrichtung angemietete Wohnung im Stadtteil Grünau-Nord nahe des Kulkwitzer Sees. Es ist nicht die schönste Gegend, ein Plattenbaugebiet am Stadtrand, aber sie wollen nicht klagen. Ihr Sohn besucht den Kindergarten, die Eltern nehmen an einem Deutschkurs teil, sie haben Freunde gefunden – Landsleute und Einheimische. Sie sind ein Stück weit angekommen. Doch der Krieg bestimmt auch hier einen Teil ihres Lebens. Sie wollten ihn hinter sich lassen und er ist ihnen nach Deutschland gefolgt.

Mutter starb wegen fehlender Versorgung

Da ist die Sorge um Familie, Freunde und ihre Angestellten, von denen ein Großteil in der Armee dient. "Gott sei Dank ist noch niemand getötet worden", berichtet Alex Kalaichev, der wegen der Gesundheit seiner Frau vom Kriegsdienst befreit ist. Beide hatten eine kleine erfolgreiche Firma im Bereich Möbeldesign und Raumausstattung, sogar aus dem Ausland nahmen sie Aufträge an. Sie zeigen Fotos von eingerichteten Wohnungen, billig sieht anders aus.

Als Anna Kalaicheva von ihrer Mutter berichtet, schießen ihr Tränen in die Augen. Die Frau litt an schwerem Diabetes und konnte nach Kriegsausbruch, als Ärzte und Medikamente knapp wurden, nicht mehr richtig versorgt werden. Sie starb im Mai. "Ich konnte nicht mal bei ihrer Beerdigung dabei sein", sagt Anna sichtlich emotional. "Sie ist auch ein Opfer dieses Krieges", ergänzt ihr Ehemann. "Sie hätte mit normaler Behandlung bestimmt noch fünf bis zehn Jahre leben können."

Sohn Senya musste seine Freunde zurücklassen

Auch ihr Sohn Senya litt sehr unter dem Verlust der Heimat. Er musste seine ganzen Freunde, die Großeltern und fast seine ganzen Spielsachen zurücklassen. Nur drei Bücher und ein paar Lieblingsspielsachen passten in die Taschen. Viele Tränen, viele Fragen. "Er wollte so oft wissen, wann wir wieder zurückgehen, wann er sein Spielzeug zurückbekommt, wann er wieder in seinem Bett schlafen kann." Inzwischen hat sich Senya gefangen.

Er hat Freunde gefunden, wirkt laut seinen Eltern wie ein normales, fröhliches Kind und spricht viel besser Deutsch als Alex und Anna. Er freut sich darauf, wenn seine andere Oma und Annas Vater aus der Ukraine zu Besuch kommen. "Manchmal fragt er noch nach seinen alten Spielsachen", sagt Alex. "Oder er erzählt im Kindergarten vom Krieg."

Zukunft noch offen

Vor allem Anna deprimiert ihre berufliche Situation. "In der Ukraine war ich Unternehmerin, hier muss ich wieder bei null anfangen wie ein Niemand." Sie würde, wie ihr Mann, gern eine Ausbildung beginnen, wenn sie gut genug Deutsch kann. In welche Richtung, weiß sie noch nicht. "Wir planen unser Leben für maximal sechs Monate in die Zukunft, alles andere würde uns verrückt machen."

Trotz aller Unsicherheiten und Sorgen fühlen sie sich in Deutschland wohl. Anna lobt vor allem die Inklusion von Menschen mit Behinderung und wie Deutschland mit seinen betagten Einwohnern umgeht. "In der Ukraine sitzen alte Menschen, die schlecht laufen können, meistens zu Hause in ihrer Wohnung. Hier nehmen sie am Leben teil." Die Digitalisierung der Behörden sei allerdings in ihrer Heimat viel weiter.

Ist Deutschland schon ein bisschen Heimat geworden nach mehr als einem Jahr in Leipzig? "Heimat? Vielleicht in ein paar Jahren", sagt Anna. Das nächste große Vorhaben: Sie wollen sich eine schöne Wohnung suchen und im Sommer den Deutschkurs beenden. "Hier sieht es ein bisschen wie in einem Stadtteil von Kiew aus", sagt Anna über den Treffpunkt für das Interview. Ein hippes Café im Stadtteil Plagwitz, das sie selbst vorgeschlagen haben. "Hier fühle ich mich wie zu Hause." Sie und Alex wissen noch nicht, wo sie leben wollen, wenn der Krieg vorbei ist. Sie müssten in der Ukraine noch einmal von ganz vorne anfangen.

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